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Feministisch schreiben

Im Roman »Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken« rüttelt Sarah Lorenz am männerlastigen Literaturkanon

Von Nane Pleger

Ein Lesesaal mit Büchrregalen
Bei Büchern ist natürlich auch immer die Frage: Wer gehört zum Kanon und kommt damit ins Regal. Foto: Gebinam /Wikimedia Commons , CC BY-SA 4.0

2006 stellen die Autorinnen des Sammelbandes »A Canon of Our Own?« fest, dass »in der Weltliteratur Frauen (wie auch allen Nationalliteraturen) eklatant unterrepräsentiert« sind. An Virginia Woolfs Gedanken in »A Room of One’s Own« anknüpfend, wird interdisziplinär untersucht, welche Bedingungen dazu führen, dass Frauen Werke schaffen können, an die sich kollektiv erinnert wird. Und warum der offizielle Kanon, also Schulpflichtlektüren, Empfehlungen der großen Verlagshäuser und Forschungsgegenstände der Literaturwissenschaft, vor allem eins ist: »männlich, weiß, heterosexuell«.

2025 erzählt Sarah Lorenz mit ihrem Buch »Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken« dagegen an. Es ist ein innerer Monolog der Protagonistin Elisa gerichtet an die 1975 verstorbene Autorin Mascha Kaléko und ihrer Lyrik. Für Elisa ist Literatur lebensrettend. Sie bietet ihr als Jugendliche einen Zufluchtsort vor ihrer gewalttätigen Realität. Als ihr zufällig ein Lyrikband von Kaléko in die Hände fällt, findet sie eine literarische Trösterin: »Maschas Poesie hat mein Leben revolutioniert.«

Elisas Kindheit endet früh: «Ich war neun Jahre alt, als die Zeit der Geborgenheit […] ein jähes Ende findet». Es ist der Moment, an dem ihr Elternhaus völlig wegbricht. In Elisas Jugend fehlen Vertrauenspersonen, die ihr Halt und Rat geben könnten. In Literatur sucht sie danach, doch ihre Lektüre hilft ihr nicht unbedingt weiter: »Ein bisschen Schuld trifft aber auch die Literatur…« Sie liest Bücher über Extreme: vom selbstzerstörerischen Verhalten von Frauenfiguren und von Liebesbeziehungen, in denen sich Frauen unterwerfen. In einer patriarchalen Welt wird das zu ihrem Ideal. In der Hoffnung auf Anerkennung und sexistischen Narrativen folgend lässt Elisa sexuelle Übergriffe über sich ergehen. Die junge Elisa hat keinen Zugang zu Literatur, die ihr Figuren zeigt, die sich feministisch in der patriarchalen Welt behaupten: »Meine Jugendbücher hatten mich nicht vorbereitet.«

Literatur hat das Potenzial, zu sensibilisieren, zu inspirieren und zu autorisieren.

Elisa erzählt auch, dass ihre Lektüre bis zu ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin in einem Antiquariat, und damit bis Kaléko in ihr Leben trat, »noch viel zu männerlastig war«. Denn auch wenn es aus feministischen, antirassistischen, herrschaftssensiblen Perspektiven Kritik am offiziellen Kanon gibt, hat sich dieser kaum geändert. Das wird im Buch plastisch dargestellt: erst im verstaubten Antiquariat trifft Elisa auf Kalékos Lyrik. Erst an einem Ort, der bewahrt, was nach kapitalistischer Logik entsorgt werden müsste, um Platz für Neues zu schaffen, findet sie zu dem Erbe von schreibenden Frauen – zeitgleich mit diesem Fund ändert sich langsam Elisas Einstellung zum Leben. Sie fängt an, Liebe in sich, statt in übergriffigen Sexualkontakten und toxischen Beziehungen mit Männern zu suchen.

Literatur hat das Potenzial, zu sensibilisieren, zu inspirieren und zu autorisieren. Doch dafür muss man außerhalb des Kanons suchen, denn dieser spiegelt eben patriarchale Machtverhältnisse wider – und auch klassistische. Das wird für Elisa immer in Begegnung mit Männern aus akademischen, intellektuellen Kreisen spürbar. Eine Zeit lang versucht sie, die bürgerlichen Klassiker nachzuholen, doch entscheidet sie dann: »Nur Sätze, die man ohne Sekundärliteratur und anschließenden Lesekreis versteht, die sollen einem peinlich sein? Nicht mehr mit mir!« Bewusst will sie »nicht mehr über Schiller und Goethe, mehr über dich, Mascha, und Irmgard und Hertha« wissen. Literarische Texte von Autorinnen erzählen Elisa von Realitäten, zu denen sie sonst keinen Zugang hätte – auch von solchen, die ihr völlig utopisch erscheinen, sich aber im Schriftlichen materialisieren und so denkbar für sie werden. Sie findet in den Autorinnen Vorbilder. Kaléko ist Elisas Mutmacherin, ihre Geschichte zu erzählen. Als Autorin aus der Vergangenheit zeigt sie ihr, dass sie ihre eigene Geschichte in ihrer Gegenwart, die ihr feindlich erscheint, erzählen kann – und muss.

Kaléko selbst schrieb in einer Zeit, die auch »männerlastig« war und nicht nur das: Sie verfasste in 1920er und 1930er Jahren in Berlin als jüdische Frau Gedichte. Bis 1937 ihre Lyrik als zum »schädlichen und unerwünschten Schrifttum zugehörig« eingeordnet wurde, verkauften sich ihre Verse über die Liebe und das Leben in der Großstadt in hohen Auflagen; 1938 muss sie in die USA fliehen. Das Fremdsein und der Verlust der Heimat sind Themen, die sie poetisch und zugänglich verarbeitet und sie mit Lorenz verbinden.

Kaléko prägte wesentlich die Literatur der Neuen Sachlichkeit und ist trotzdem nicht Teil des offiziellen Literaturkanons. An eine jüdische Frau wird sich schwer erinnert. Doch die Popkultur holt sie wieder in die Gegenwart: Seit 2020 vertont Dota Kehr ihre Lyrik musikalisch, 2022 schreibt Indra Maria Janos ihre Berliner Zeit in einem Unterhaltungsroman auf und 2025 bringt Lorenz dieses Buch heraus, das ohne Kaléko und ihre Poesie nicht zu denken wäre. Hoffentlich der Beginn einer kleinen Revolution des Kanons von unten, die sich auch in den Schulen, den Unis und Verlagshäusern bemerkbar macht.

Nane Pleger

ist Autorin und schreibt für ak meist über Bücher, deren Geschichten sie als Verhandlungsort von gesellschaftlichen Narrativen sieht.


Sarah Lorenz: Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken. Rowohlt, Hamburg 2025. 224 Seiten, 24 EUR.