Gewaltfragen
Von Frédéric Valin
Was ist Gewalt? Und wann ist sie okay? Jemanden an den Haaren zu ziehen, damit er nicht auf eine Straße rennt, auf der er totgefahren werden könnte? Wäre eventuell vertretbar, kommt aber aufs Verhältnis an. Jemanden ins Bad zu prügeln, damit er sich duscht, damit er schlussendlich keine Ekzeme kriegt? Niemals auch nur im Ansatz okay. Bisschen schubsen vielleicht, bisschen verbale Gewalt? Nein. Bisschen Manipulation vielleicht? Hm. An einem Ekzem stirbt man nicht, an einem fahrenden LKW schon; es geht da immer um Verhältnismäßigkeiten. Wo aber ist die Grenze? Und: Wer definiert sie?
Diese Verhältnismäßigkeiten sind nicht logisch, sondern Teil von Konventionen. Es gibt einen Common Sense, der Gewalt legitimiert oder mindestens akzeptiert, und es gibt die Grenze, die Zumutung von Gewalt trennt. Diese Grenze verschiebt sich ständig, die Formen von Gewalt, die akzeptabel sind, sind immer verhandelbar. Vor 30 Jahren war es noch völlig okay, Behinderte mit Handschellen an Heizkörper zu ketten, sie mit kaltem Wasser abzuspritzen. Das war kein Skandal, das war, wenn auch nicht Alltag, so doch akzeptiert.
Gewalt gegen Menschen mit Behinderung war immer akzeptierter als Gewalt gegen Menschen, die später einmal eine Stimme haben könnten, das heißt Menschen, die sich später einmal vielleicht rächen könnten. Das ist der Punkt, der selten verstanden wird, wenn wir über Gewalt gegenüber behinderten Menschen sprechen: Eine Ohrfeige ist je nach Kontext sehr unterschiedlich zu bewerten. Wenn zwei Leute, die sich vielleicht auch lange kennen, sich promillehalber am Tresen irgendeiner Bar nicht verstehen und sich gegenseitig eine reinhauen, würde ich in mein rudimentäres Bairisch verfallen und sagen: Jo mei. Wenn ein*e Pfleger*in ihre Schutzbefohlenen prügelt, eventuell dafür verurteilt wird, nutzt das den Schutzbefohlenen schlussendlich gar nichts. Sie verbleiben im gleichen traumatisierten Raum, sie sind nach wie vor den Strukturen ausgesetzt, die diese Gewalt gegen sie ermöglicht haben; sind sogar angewiesen darauf, darin zu verbleiben, weil es woanders keine freien Plätze gibt.
Aktive, selbst gewählte Gewalt ist sehr viel sexyer und anschlussfähiger als Notwehr. Notwehr ist auch entsprechend sehr viel seltener. Neulich traf ich eine Freundin, die in einer Wohngruppe arbeitet mit Leuten mit fetalem Alkoholsyndrom; das sind recht oft Personen, die haben sich nicht im Griff. Ich hab sie mal gefragt, was wahrscheinlicher ist: ob sie umgebracht wird von einem von ihren Bewohnerinnen oder ob sie (oder ein*e Kolleg*in) einen der Leute dort umbringt. »Wenn ich so denken würde«, sagte sie, »könnte ich da nicht mehr arbeiten.« Ob sie häufig darüber nachdenke, da jemanden umzubringen, fragte ich sie; »ja«, sagte sie. Ob sie denke, dass häufig jemand dort darüber nachdenke, sie umzubringen. Damit meinte ich nicht sie persönlich umbringen, sondern einfach ein*e Betreuer*in.
»Hm«, sagte sie, darüber habe sie noch nie nachgedacht. Ich verstehe das. Ich verstehe, dass sie noch nie darüber nachgedacht hat. Sie arbeitet in einer Gruppe mit austherapierten Leuten, die FAS haben. Da lernst du als erstes, wie du mit dem Rücken zur Wand von der Küche zum Büro kommst und zurück, damit dich niemand von hinten würgt. Alle drei Monate wird das Sofa erneuert, weil eine*r der Bewohner*innen in der Krise die Inneneinrichtung zerlegt. Aber wenn man fragt: Wer würde im Fall der Fälle wen umbringen, sie nachdenkt?
Das erzählt uns vermutlich einiges über diese Einrichtungen, die wir gesellschaftlich organisiert haben.