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Wenn Ex-Manager an der Arbeitszeituhr drehen

Die neue Regierung fordert Mehrarbeit – und nimmt in Kauf, dass sich die Reproduktionskrise verschärft

Von Nicole Mayer-Ahuja

Eine Uhr an einer weißen Wand. Die Zeiger stehen auf 10:09.
Auch mal arbeiten bis nach 22 Uhr - Kanzler Friedrich Merz sieht darin kein Problem. Foto: Unsplash/Ocean Ng

In Deutschland wird nicht lang und flexibel genug gearbeitet. So sieht das jedenfalls die neue schwarz-rote Bundesregierung. Man reibt sich verwundert die Augen. Berichten Beschäftigte doch regelmäßig über Hetze, Überforderung und die Unmöglichkeit, überhaupt gute Arbeit zu leisten, ohne über die eigenen Grenzen zu gehen. Nicht genug Zeit, um Kranke zu pflegen; permanente Noteinsätze im Supermarkt; peinliche »runde Ecken« in der Gebäudereinigung; Pfusch abliefern in der Industrie … oder eben immer schneller, intensiver und regelmäßig länger arbeiten. Schluss mit dem Gejammer, tönt es aus dem Kanzleramt: »Entscheidend ist«, meint der neue Kanzler und ehemalige Manager der Investmentgesellschaft Blackrock Friedrich Merz, »dass wir die Mentalität wieder ändern, dass für uns Arbeit nicht länger die Unterbrechung unserer Freizeit ist«. 

Wen meint er mit »wir«? Jene Vollzeitbeschäftigten, die gegenüber der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angaben, pro Woche im Schnitt (!) fünf Stunden länger zu arbeiten als im Vertrag steht? Die 41 Prozent, die laut DGB-Index Gute Arbeit sehr häufig oder oft nach der Arbeit zu erschöpft sind, um sich um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern? Offenkundig sind die alltäglichen Arbeitserfahrungen von Beschäftigten nicht mit jenen neoliberalen Ideologien vereinbar, die von der Flughöhe eines Privatjets aus schlüssig erscheinen. Leider ist zu befürchten, dass letztere weiterhin die Regierungspolitik prägen.

Exzessive Mehrarbeit 

Bekanntermaßen leisten viele Beschäftigte exzessive Mehrarbeit, und viele dieser Überstunden werden weder erfasst noch bezahlt. Ein wichtiger Grund dafür sind indirekte Steuerungsformen, wie man sie etwa bei Projektarbeit findet. Arbeitet, wann und wie lang ihr wollt, heißt es, Hauptsache, das Projekt wird fertig. Viele Beschäftigte schätzen die »Freiheit«, die dadurch entsteht, dass man sich die Schritte der Projektbearbeitung und die eigenen Arbeitszeiten in höherem Maße selbst einteilen kann. Kein Wunder, denn wer arbeitet schon gerne unter der direkten Kontrolle von Vorgesetzten? 

Die Sache hat allerdings einen Haken, denn die Rahmenbedingungen des Projekts (sein Inhalt, der Abgabetermin, die verfügbaren Personalressourcen usw.) werden in aller Regel nach wie vor vom Management festgelegt. Weil »der Markt« nicht mehr hergibt oder »der Kunde« nicht verhandlungsbereit ist, so die gängige Argumentation, werden Projekte sehr häufig so knapp kalkuliert, dass von Anfang an klar ist, dass sie in der vereinbarten Zeit nur dann abgeschlossen werden können, wenn Beschäftigte deutlich länger (und intensiver) arbeiten als in ihren Verträgen vorgesehen. Diese Erfahrung ist weit verbreitet: Zu wenig Leute, zu knappe Deadlines – und ein Management, das daran angeblich auch nichts ändern kann. Dann müssen Feierabend und Wochenende eben warten. 

Schon heute entspricht die Zahl aller geleisteten Überstunden rund einer Million Vollzeitarbeitsplätzen. 

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat 2019 entschieden: Jede Minute Arbeitszeit muss dokumentiert und bezahlt werden. Diese Vorgabe ist ziemlich genau sechs Jahre alt, aber bis heute nicht in deutsches Recht umgesetzt worden. Immerhin war der Sturm der Entrüstung groß. Wie seit den 1980er Jahren üblich, konnte man auch anlässlich dieses Urteils lesen und hören, dass kollektive Regeln für Arbeitszeiten (seien sie gesetzlich oder tariflich) den vielfältigen Bedürfnissen von Beschäftigten nicht gerecht würden. Speziell junge Väter wolle der EuGH nun daran hindern, abends in Ruhe die Kinder ins Bett zu bringen und sich danach noch einmal an den Schreibtisch zu setzen, weil damit die Mindestruhezeit von elf Stunden verletzt werde, die das Arbeitszeitgesetz vorsieht. Die naheliegende Frage, warum es diesen (und anderen) Beschäftigten nicht möglich ist, ihre Arbeitsaufgaben während der Kernarbeitszeiten zu erledigen, und welche Zeit- und Personalressourcen Unternehmen zur Verfügung stellen müssten, damit dies gelingt, wurde und wird bis heute kaum gestellt. 

Was schlägt nun der Koalitionsvertrag vor? Arbeitszeiterfassung soll »unbürokratisch« geregelt werden, Vertrauensarbeitszeit bleibt ausgenommen. Genau das Arbeitszeitarrangement, von dem bekannt ist, dass es zu exzessiver (und undokumentierter) Mehrarbeit führt, soll also auch weiterhin nicht reguliert werden. Der angekündigte Übergang von »einer täglichen (zu) einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit« heißt konkret: Schluss mit dem hart erkämpften Acht-Stunden-Tag – und mit der erwähnten Mindestruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen, auf die man bestehen kann, wenn Vorgesetzte »Arbeiten ohne Ende« verlangen. Steuerfreie »Zuschläge für Mehrarbeit« werden versprochen. Aber was bringt das, wenn viele Überstunden ohnehin weder dokumentiert noch bezahlt werden? Schon heute entspricht die Zahl aller geleisteten Überstunden rund einer Million Vollzeitarbeitsplätzen – bei wieder steigender Arbeitslosigkeit. 

Alternative: kurze Vollzeit 

Fragt man Beschäftigte nach ihren Wünschen, so sprechen sich viele von ihnen für eine »kurze Vollzeit« von etwa 30 Stunden pro Woche aus: Vor allem vollzeitbeschäftigte Männer, die regelmäßig Überstunden leisten, würden gerne kürzer arbeiten – jene Frauen hingegen, die in den letzten Jahren zunehmend auf Basis von Teilzeit- oder »Minijobs« erwerbstätig geworden sind, geben oft an, dass sie gerne länger arbeiten würden.

Doch »kurze Vollzeit« erfordert grundlegende Veränderungen: Die Arbeitszeitverlängerung von Teilzeitbeschäftigten setzt voraus, dass es ausreichende und verlässliche Angebote für Kinderbetreuung und Altenpflege gibt – und das macht staatliche Investitionen in öffentliche Dienste notwendig, die mit der (weiter bestehenden) Schuldenbremse für den regulären Bundeshaushalt nicht vereinbar sind. Eine umfassende Arbeitszeitverkürzung für Vollzeitbeschäftigte hingegen wäre nur möglich, wenn sie mit Lohn- und Personalausgleich einhergeht – denn sonst könnte es sich ein Großteil der Lohnabhängigen nicht leisten, die Arbeitszeit zu reduzieren. Der Arbeitsdruck würde weiter steigen, weil noch mehr Arbeit in derselben Zeit geleistet werden muss, solange nicht mehr Leute eingestellt werden. Schließlich müsste »kurze Vollzeit« zu einer »neuen Normalarbeitszeit« gemacht werden: Ein Arbeitsleben mit 30-Stunden-Vertrag müsste tatsächlich als Grundlage für eine »Eckrente« ausreichen. Kurz: Die Forderung nach »kurzer Vollzeit für alle« wirft einige grundlegende Fragen auf – nach einer gerechteren Verteilung von gesellschaftlicher Zeit und von gesellschaftlichem Reichtum. Diese Debatte ist überfällig. Umso problematischer ist es, dass selbst die IG Metall vom Ziel einer Vier-Tage-Woche abzurücken scheint. 

Wer hingegen noch mehr Mehrarbeit fordert, nimmt in Kauf, dass sich die »Reproduktionskrise« verschärft: Wer betreut Kinder, wer sorgt für Alte, wie stellt man Erholung sicher, damit nicht noch mehr Beschäftigte krank werden? Stimmt – für Reproduktion sorgen ja die Frauen, die in Teilzeit oder »Minijobs« arbeiten! Dass sie in Deutschland sehr viel weniger Arbeitsstunden leisten als anderswo in der EU, ist übrigens der Grund für jenen »Skandal«, den das Institut der deutschen Wirtschaft aufgedeckt hat: »Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche«. Den Drückeberger*innen muss man wohl Beine machen. In Griechenland dürfte die Verlängerung der Arbeitszeiten nicht zuletzt im Zeichen einer Austeritätspolitik gelungen sein, die mit drastisch sinkenden Löhnen einhergegangen ist. Düstere Perspektiven für Arbeitende, auch hierzulande. Grund genug, für bessere Zeiten zu kämpfen! 

Eine Kurzversion dieses Textes ist am 28. Mai 2025 in der Tageszeitung nd als Teil der monatlichen Kolumne »Konfliktfeld Arbeit« von Nicole Mayer-Ahuja erschienen.

Nicole Mayer-Ahuja

ist Arbeitssoziologin und Professorin an der Universität Göttingen.