Wissenswertes über Erlangen
Von Frédéric Valin
In der letzten Phase der Vernichtungsaktionen gegen sogenanntes lebensunwertes Leben wurden überall in Deutschland Hungerhäuser organisiert, in denen relativ unkontrolliert und unkoordiniert gestorben werden sollte. Und auch unkontrolliert und unkoordiniert gestorben wurde. Die Idee war einfach: Wir haben die, die wir als unwert definiert haben, erfolgreich vom Rest der Bevölkerung isoliert. Die zentralen Vernichtungsaktionen durch Gas oder Medikamente waren zu teuer und haben obendrein zu viel Widerspruch hervorgerufen. (Als Atheist, der ich bin, muss ich leider darauf hinweisen, dass sich insbesondere die katholische Kirche hier resistenter gezeigt hat als andere Institutionen; ich warte noch auf das Buch, das dieses Phänomen nicht nur konstatiert, sondern auch ernsthaft aufarbeitet.) Also ging die deutsche Gesellschaft dazu über, dezentral zu morden: durch Hunger vor allem. Es gab für die Menschen in den Einrichtungen dann kaum mehr als drei Scheiben Brot am Tag, etwas Zuckerrübensaft, und das Pflegepersonal hat ihnen dabei zugesehen, wie sie wortwörtlich vom Fleisch fallen.
Wer »sie« sind, die da vom Fleisch fielen, war, sobald sie in die Mühlen der Diagnostik geraten waren, eigentlich egal. Was krank war und was nicht, entschieden ideologisch indoktrinierte Bürokrat*innen, das Überleben innerhalb dieser Institutionen war reines Glück. Es klingt zunächst einmal zynisch zu sagen, dass das Gedenken an die Shoah diese Opfer überdeckt hat, aber es ist gar nicht als zynische Pointe gemeint: Der Nationalsozialismus hat derart viele Opfer gefordert, dass es unmöglich war, alle gleichzeitig zu würdigen, allen gerecht zu werden.
Jetzt, mehr als 90 Jahre nach der »Machtergreifung«, müsste das eigentlich möglich sein, aber nein: Menschen mit Behinderung haben keine Lobby unter Nicht-Behinderten. Vermutlich wird es auch nie eine geben, Behinderte können sich nie in solchen archaischen Ideen wie Volk, Religion, Gemeinschaft zusammengeschlossen fühlen. Die Gefahr eines Zusammenschlusses unter einer Ägide, die mehr als sie umfasst, ist real: Dann wird im Zweifel über sie bestimmt, ohne dass sie mitreden. Und im Zweifel sind sie auch verzichtbar.
In Erlangen ist folgendes passiert: Dort gab es noch zwei intakte ehemalige Hungerhäuser, die werden jetzt abgerissen für einen Neubau des Max-Planck-Instituts. Ein Haus aus dieser Epoche bleibt stehen: das ehemalige Verwaltungshaus. Das ist paradigmatisch: Die Orte der Opfer werden überbaut – obendrein von einer Institution, die in direkter Nachfolge einer Vereinigung steht, die von den Morden an behinderten Menschen profitiert hat, nämlich der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, und die Ergebnisse aus der Hirnforschung noch jahrzehntelang aus Proben gewonnen hat, die unter den Bedingungen des Dritten Reiches gewonnen wurden. Das heißt die Menschen, von denen die Proben stammen, wurden ermordet, und die Wissenschaft hat nicht gesagt: Das nehmen wir nicht als Material. Hat stattdessen gesagt: Wir sagen juchuh, aber nicht laut. Tausende Doktor*innenarbeiten basieren auf den Massenmorden an sogenannten Behinderten; auf den Proben, die damals genommen wurden und inzwischen in digitalen Archiven für immer aufbewahrt sind. Aber die Häuser, in denen die Proband*innen verreckt sind, reißt man ab, als wäre es niemandes Schuld.