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Einsame Verbrecher

Wer die Mafia als isoliertes Phänomen beschreibt, wird ihren Zugriff auf Gesellschaft und Staat nie ganz verstehen

Von Miryam Frickel

Wenn Teile des Staatsapparates und der Mafia in Konflikt geraten, kann es blutig werden: Anschlag auf Ermittlungsrichter Giovanni Falcone 1992 auf Sizilien. Foto: Luckyz/ Wikipedia.it

Im Kampf gegen die Mafia sind alle Mittel erlaubt – darüber sind sich die verschiedenen
politischen Lager in Italien einig. Das italienische Strafrecht ermöglicht daher
weitreichende Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen. Verändert die Mafia ihre Strategie, reagiert der Staat mit Strafverschärfungen. Eine davon ist der Artikel 41-bis des italienischen Strafvollzugsgesetzes. Für Notsituationen und gegen Mafiosi eingeführt, wurde die Anwendung des Gesetzes über die Jahre ausgeweitet. Einer der aktuell unter Art 41-bis Inhaftierten ist der Anarchist Alfredo Cospito. Seit über hundert Tagen befindet er sich im Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Sein Gesundheitszustand soll inzwischen lebensbedrohlich sein. Der isolierte Sonderstrafvollzug ist eigentlich dafür gedacht, den Kontakt zwischen Mafia-Bossen und ihren Organisationen zu unterbinden. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni betonte dazu Ende Januar: »Der Staat darf sich nicht von jenen einschüchtern lassen, die dessen Vertreter bedrohen«. Das Narrativ vom starken Staat, das die Postfaschistin bemüht, verstellt den Blick auf das eigentliche Verhältnis zwischen Staat und Mafia. Die Anwendung des Mafia-Paragrafen auf einen anarchistischen Gefangenen zeigt, dass das Gesetz auch politisch genutzt werden kann.

In Bezug auf die Mafia ist die Rhetorik so bekannt wie irreführend: Gegen die schlimmsten Verbrecher muss der Staat hart durchgreifen, denn sie bewegen sich außerhalb der »normalen« Gesellschaft und des Staates. Diese Sprache wird regelmäßig und nicht nur von rechts ausgepackt. Zuletzt hörte man sie anlässlich der Verhaftung des meistgesuchten Mafioso Italiens, Matteo Messina Denaros. Seit dreißig Jahren auf der Flucht, mehrfach angeklagt und zweimal zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde er im Januar diesen Jahres auf dem Weg in eine Privatklinik in Palermo festgenommen. Er gilt als einer der letzten flüchtigen Verantwortlichen für die Mafia-Attentate der 1990er-Jahre, welche unter anderem auf zwei Richter verübt wurden, die gegen die Mafia ermittelten. Ihm wird eine zentrale Rolle in der sizilianischen Mafia, Cosa Nostra, zugeschrieben.

Staatliche Erzählung

Meloni bezeichnete die Festnahme als »großen Erfolg des Staates, der zeigt, sich nie gegenüber der Mafia geschlagen zu geben«. Matteo Salvini von der rechten Lega gab sich »tief bewegt« und dankte »den Frauen und Männern des Staates, die nie aufgegeben haben«. Auch die mediale Berichterstattung war geprägt von der triumphalen Erzählung des starken Staates, der seine Durchsetzungskraft beweisen konnte. Zur Rhetorik vom siegreichen Staat kam allgemeine Sensationslust: Man konnte von der Uhrenmarke (Franck Muller, 35.000 Euro, Der Spiegel) bis zum Sexleben (viel Viagra, NZZ) des Mafioso fast alles erfahren.

In der heutigen Berichterstattung ist die Aufteilung klar, die Mafia gilt als Anti-Staat und der Staat als Anti-Mafia. Gut und Böse treten in diesen Erzählungen gegeneinander an und – trotz bedauerlicher Verluste – gewinnt letztlich das Gesetz des Staates. Die meisten Urteile und Berichte gehen dabei von hierarchisch organisierten, geschlossenen Organisationen und starken Führungsfiguren aus

Der Gründer des ersten sizilianischen Dokumentationszentrums über die Mafia, Umberto Santino, spricht stattdessen von »Mafia-Bourgeoisie«. Damit beschreibt er ein System von Beziehungen zwischen Staat und organisierten kriminellen Gruppen und betont, dass die Mafia ohne die Verflechtungen nicht handeln könnte oder zumindest nicht die Bedeutung hätte, über die sie nach wie vor verfüge.

Mafia kann vor diesem Hintergrund als ein spezifisch modernes Phänomen verstanden werden, dessen Machtgewinn im Zusammenhang mit der italienischen Staatsbildung und den damit einhergehenden sozialen Konflikten steht.

Erst 2022 wurden drei Polizeibeamte aus dem Anti-Mafia Pool, einer Ermittlungsgruppe, nur aufgrund von Verjährung freigesprochen. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie einen »falschen Zeugen« dazu gebracht hatten, sich selbst und andere zu belasten, um so die Ermittlungen zu beeinflussen. Die Staatsanwaltschaft von Caltanissetta, Sizilien, sprach von einem »gigantischen« und »beispiellosen« Betrug, der »hochrangige Mafia-Allianzen vertuschte«.

Weitreichende Beziehungsnetzwerke bestehen eben nicht nur unter Mafiosi nach der strikten Definition. Sie betonen die Rolle von Vertreter*innen großer Institutionen und des Staatsapparates, wirtschaftliche, und politische Akteur*innen, aber auch staatliche Entscheidungsträger*innen stehen zum Teil im Kontakt mit der Mafia. Einzelpersonen, oft den Mafia-Bossen, dabei eine derart dominante Stellung zuzuschreiben, wird der mafiösen Struktur nicht gerecht.

Klassenkampf von oben

Denaro und andere Figuren sind Teile eines komplexen und gegliederten mafiösen Machtsystems, das seine Vorgehensweise über die Jahre verändert hat und zu dem die Spitzen des Establishments gehörten. Es ist daher hilfreicher, konkrete politische Allianzen und ihre Einbettung in die Gesellschaft in den Blick zu nehmen.

Das zeigt auch ein Blick in die Geschichte: Der Aufstieg der sizilianischen Mafia lässt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Niederschlagung der fasci siciliani Ende des 19. Jahrhunderts lesen. Fascio heißt so viel wie Liga oder Bündel und beschrieb zu dieser Zeit politische Organisationen jeglicher Richtung. Der Begriff wurde aber durch den historischen Faschismus in der Wortbedeutung vollständig überschrieben. Die fasci siciliani stellte die erste sozialistische Massenbewegung in Italien dar. Die Bewegung schaffte es, Stadt- und Landbevölkerung in ihrem Protest gegen die Großgrundbesitzer und das aufstrebende Bürgertum zu vereinen und war entsprechend für diese Interessensgruppen bedrohlich. Mit dem Beginn der ersten Agrarstreiks begannen auch die Angriffe selbstorganisierter Korps auf die Landarbeiter*innen. Die Korps waren bewaffnete, private Sicherheitskräfte meist im Dienste der Großgrundbesitzer. Als die Proteste größer wurden, griff auch die Staatsgewalt ein: Während ein Teil der Toten zwar der regulären Armee zuzuschreiben ist, geht ein großer Teil der Morde aber auf die privaten Polizeikorps zurück, die dafür nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Die am Erhalt des Status quo interessierten Kräfte wirkten hier zusammen, wie es noch öfter geschehen sollte. Aus diesen privaten Sicherheitskräften entstand die Mafia als gewalttätiger Akteurin neben dem Staat.

Mafia kann vor diesem Hintergrund als ein spezifisch modernes Phänomen verstanden werden, dessen Machtgewinn im Zusammenhang mit der italienischen Staatsbildung und den damit einhergehenden sozialen Konflikten steht. Sie stellt keinen süditalienischen Ausnahmezustand dar, vielmehr sichert sie nach wie vor gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse ab. Mit diesem Blick können auch Verbindungen zum politischen und wirtschaftlichen Umfeld, das nicht als strikt »mafiös« eingestuft wird, berücksichtigt werden.

Die Form der Berichterstattung stellt insofern eine verpasste Gelegenheit dar, grundsätzlicher über das Verhältnis von Mafia und Staat nachzudenken. Sonst könnten strafbewehrte und legale Methoden betrachtet werden, die auch heute gegen eine gewerkschaftliche Organisierung von (in vielen Fällen illegalisierten) Arbeiter*innen auf den Feldern Italiens angewendet werden. Das Missmanagement von Unterkünften für Geflüchtete durch die Mafia, wie im Falle des mittlerweile geschlossene CARA di Mineo auf Sizilien, die Verzögerung von Asylprozessen und Illegalisierung von jenen, die aus dem Asylsystem herausfallen, greifen in der Praxis ineinander und führen in vielen Fällen dazu, dass migrantisierten Personen kaum Alternativen bleiben, als im Agrarsektor unter sklavenähnlichen Bedingungen zu arbeiten. Der staatliche und mafiöse Angriff auf soziale Kämpfe zeigt die Anwesenheit der Mafia besser im politischen und ökonomischen Betrieb als die staatspolitischen Inszenierungen von Recht und Ordnung. Vor diesem Hintergrund sollte die oft behauptete Autonomie der Mafia misstrauisch machen, denn eine solche Erzählung verschleiert Zusammenhänge, die auch, aber eben nicht nur »echte Mafiosi« betreffen.

Miryam Frickel

arbeitetet bei verschiedenen (Dokumentar-)Filmfestivals und Filminitiativen mit.