»Ein Schlag in die Magengrube«
Was das Scheitern Syrizas in Griechenland mit unserer Gegenwart zu tun hat, erklärt Daniel Mullis
Interview: Sebastian Bähr
Als Syriza in Griechenland 2015 an die Macht kam, schöpften viele Linke neue Hoffnung auf ein anderes Europa. Doch auf das Oxi-Referendum folgte der Rückzug. Darüber, warum die Ereignisse jenes Jahres ein Wendepunkt waren und wie sie die politischen Kräfteverhältnisse bis heute prägen, spricht Daniel Mullis im Interview.
Im Juli 2015 stimmte eine deutliche Mehrheit der Griech*innen gegen die brutalen Sparvorgaben der EU – die linke Syriza-Regierung setzte sie dann trotzdem um. Warum ist dieser Moment für das Verständnis der heutigen Weltlage so entscheidend?
Daniel Mullis: Um die Ereignisse 2015 zu verstehen, muss man ein paar Jahre zurückgehen. Wir sollten uns vergegenwärtigen, was 2011 für eine Aufbruchstimmung herrschte: Es war der Beginn des Arabischen Frühlings; es gab Proteste gegen Sparpolitik in Großbritannien, Platzbesetzungen in verschiedenen europäischen Ländern und im Herbst Occupy Wallstreet in den USA. Da war überall ein progressives Aufbegehren für Demokratie und soziale Gerechtigkeit – wenn auch in jeweils sehr unterschiedlichen Kontexten.
Wie war die Situation 2011 in Griechenland?
Auch hier gab es massive Proteste. Diese standen im Zusammenhang mit der europäischen Schuldenkrise, die nicht nur, aber doch auch ein Nachwirken der globalen Finanzkrise von 2008 war. In Griechenland drohte im Mai 2010 der Staatsbankrott. Die sogenannte Troika – der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission – stellten Finanzhilfen in Aussicht, aber nur, wenn Griechenland im Gegenzug tiefgreifende Sparmaßnahmen und Restrukturierungsprogramme umsetzen würde. Wir kennen dies als Schock-Doktrin aus dem Globalen Süden. Viele Menschen gingen dagegen auf die Straße. Die Proteste dauerten fast zwei Jahre an und brachen dann etwas ein. Sie führten dennoch dazu, dass im Januar 2015 die linke Partei Syriza die Wahlen gewann und eine Regierung formieren konnte. Sie tat dies zusammen mit der Rechtsaußenpartei der Unabhängigen Griechen, mit der sie das Ziel verband, die Sparpolitik zu beenden.
Wie reagierten darauf Linke im Rest Europas?
Viele hatten sich über die Wahl von Syriza gefreut, aber über die Koalition gewundert. Zugleich hofften viele, dass damit nochmal Schwung in die Krisenproteste kommt, die es bereits seit 2011 in verschiedenen Ländern gab. In Spanien war so etwa die linke Partei Podemos entstanden. In Deutschland fanden wiederum im März 2015 zum dritten Mal die Blockupy-Aktionstage statt. Der neue Turm der Europäischen Zentralbank sollte damals in Frankfurt am Main eingeweiht werden, Tausende beteiligten sich dann an Blockaden und Protesten. Aktivist*innen kamen dafür auch aus Spanien, Griechenland und Italien.

Daniel Mullis
ist Jahrgang 1984, Humangeograph und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Denkfabrik Rechtsextremismus von Campact. Zuletzt veröffentlichte er »Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte«. 2017 brachte er zudem »Krisenproteste in Athen und Frankfurt. Raumproduktionen der Politik zwischen Hegemonie und Moment« heraus. Foto: Peter Jülich
Welche Rolle spielte die deutsche Bundesregierung in dem Konflikt?
Einerseits war die Bundesregierung unter Angela Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble, beide CDU, gewillt, Geldmittel für Griechenland freizugeben. Andererseits war von Beginn an klar, dass die Bundesregierung strenge Maßnahmen durchsetzen will. Schäuble hatte dann auch den Grexit, den Austritt Griechenlands aus dem Euro-Raum, ins Spiel gebracht. Parallel gab es in Deutschland eine Berichterstattung, die Ressentiments gegen Griech*innen schürte, die Bild sprach etwa von »Pleitegriechen«, die auf Kosten der deutschen Steuerzahler*innen leben würden.
Dann war Juli 2015. Was passierte da?
Die neue griechische Regierung versuchte mit viel Energie, mit den Gläubigern und der Troika neu zu verhandeln. Gleichzeitig war ihr jedoch wieder das Geld ausgegangen, wodurch sie keine guten Karten hatte. Im Zuge der langen Verhandlungen organisierte die Regierung dann eine Volksabstimmung am 5. Juli. Nach einer großen Mobilisierung stimmten 61,31 Prozent der Menschen mit »Oxi«, also einem Nein, gegen die geforderten Sparmaßnahmen. Wenige Tage später mussten sie zusehen, wie Ministerpräsident Alexis Tsipras diese trotzdem akzeptierte.
Sämtlichen realpolitischen linken Projekten wurde der Wind aus den Segeln genommen.
Was machte das mit den Menschen?
Die Euphorie wich abrupt der Ernüchterung. Die Bewegung in Griechenland hatte den Kampf gegen die Sparpolitik bereits seit 2011 geführt; viele der Beteiligten waren selbst betroffen von Arbeitslosigkeit. Ihre Träume fürs Leben hatten sich im Zuge der politischen Veränderungen in Luft aufgelöst. Resignation war schon vor 2015 eine verbreitete Realität, aber die Ereignisse des Juli 2015 waren hier definitiv ein Schlag in die Magengrube.
Wie groß war Tsipras’ Spielraum für eine alternative Politik, also etwa ein selbstbestimmter Austritt aus der Eurozone mit dem schrittweisen Ausbau sozialistischer Politik?
Das ist schwer zu sagen. 2015 war der Moment für einen Bruch fast schon verpasst. Die soziale Erschöpfung war zu groß, die Spielräume zu klein. Vielleicht hätte das 2011 funktionieren können, als es noch diesen großen gesellschaftlichen Aufbruch, zahlreiche Besetzungen und eine kämpferische Stimmung von unten gab.
Gleichzeitig gab es ja Versuche aus dem Ausland, die Position der griechischen Linken zu stärken. Welchen Einfluss hatten sie?
Letztlich waren die linken Kräfte in Europa nicht stark genug. In Deutschland etwa wurden ja die Blockupy-Proteste vor allem von der außerparlamentarischen Linken und Teilen der Linkspartei getragen. Aber gerade von der Sozialdemokratie und den Grünen gab es keine Beteiligung oder auch nur eine wirksame Kritik an der Austeritätspolitik. Es hätte hier in Deutschland und insgesamt in den europäischen Machtzentren selbst einer viel umfassenderen Aufbruchsstimmung bedurft, um wirklich in die Konfrontation gehen zu können. Die Parteien der linksliberalen Mitte hatten eine unglaubliche Chance für einen Politikwechsel verpasst.
Welche Rolle spielten die Gewerkschaften?
Die Gewerkschaften hatten sich ab 2008 stark dafür eingesetzt, dass die Schulden zur Bankenrettung nicht komplett auf die breite Bevölkerung umverteilt werden. Teile der Gewerkschaften, vor allem die Jugendverbände, hatten sich dann auch an den Protestmobilisierungen wie Blockupy beteiligt. Die Gesamtorganisationen waren aber insgesamt doch in ihrer nationalen Standortlogik gefangen geblieben.
Wie hat das fehlgeschlagene »Oxi« nun unsere heutigen politischen Bedingungen geprägt?
Es gibt nie eine monokausale Erklärung. Mit dem Blick auf 2015 lässt sich dennoch eine Zäsur feststellen: In dem Jahr hatte die EU am Beispiel Griechenland klargemacht, dass sie ihre Austeritätspolitik durchzieht – egal, was es kostet. Sämtlichen realpolitischen linken Projekten wurde damit der Wind aus den Segeln genommen. Auch die radikale Linke war betroffen. Selbst, wenn nicht alle Syriza unterstützten – die Entmachtung einer demokratisch gewählten Regierung hatte nochmal eine andere Tragweite als die Zerschlagung einzelner Proteste. Viele erkannten: Selbst wenn man Wahlen gewinnt, reicht es nicht.
Was folgte daraus?
In ganz Europa begannen sich ab 2015 die Krisendynamiken zu verschärfen. Linksliberale oder sozialdemokratische Projekte – in Deutschland wurde über Rot-Rot-Grün diskutiert – hatten es nun ungleich schwerer, noch glaubwürdig für eine andere Politik zu stehen. Das erklärt letztlich mit, warum die ganze Wut heute von der extremen Rechten mobilisiert werden kann – aber nicht von links.
Haben die Menschen die Hoffnung verloren, dass linke Politik erfolgreich sein kann?
Ja, in Teilen ist das wohl so. Das gilt nicht nur in Deutschland, wo es ab 2016 zu massiven rassistischen Angriffen kam und 2017 die AfD erstmals in den Bundestag einzog. 2016 wurde auch Trump zum ersten Mal US-Präsident und in Großbritannien stimmten die Menschen für den Brexit. Die Erkenntnis, dass eine andere Politik, ein grundlegender Widerspruch, eher von rechts »Erfolge« bringt, wurde offenbar an vielen Orten gleichzeitig erfahren. Diese Erfolge wurden aber gerade deshalb möglich, weil die Parteien der rechten Mitte sich nach Links verschlossen und gegenüber der extremen Rechten öffneten.
Was waren die Folgen für die Bewegungen?
Das ist ambivalent. Einerseits gab es in Deutschland schon eine gewisse Fortsetzung dieser Kämpfe für ein anderes Europa, etwa bei der Bewegung Seebrücke und den Auseinandersetzungen für eine andere Asyl- und Migrationspolitik, bei dem G20-Gipfel 2018 in Hamburg oder den Unteilbar-Demonstrationen 2018 und 2019. Andererseits war man als organisierte Linke nach der Niederlage von Syriza schnell gezwungen gewesen, Abwehrkämpfe zu führen. Von dem Gefühl, etwas positiv verändern zu können, hatte man sich erst mal verabschiedet.
Haben die Bewegungen damals Fehler gemacht?
Wir sollten die linken Bewegungen nicht defizitär betrachten. Viele Menschen hat diese Zeit subjektiv sehr geprägt. Heute gibt es manchmal das Argument, dass die Bewegungen in den 2010ern zu wenig strategiefähig waren und keine starken Organisationen hatten. Man kann es aber auch so sehen, dass man gerade durch den lockeren Charakter leichter mobilisieren konnte und weniger angreifbar war für Repression. Was vielleicht ein bisschen verpasst wurde, war zu erkennen, wie starr und hart der politische Gegner bereits geworden war – die Haltung zur Austerität hatte sich ja längst bis ins grün-sozialdemokratische Lager festgesetzt.
Zehn Jahre später ist die Welt in vielen Bereichen noch tiefer in die Krise gerutscht. Die extreme Rechte gewinnt fast überall an Macht. Wie offen ist die Situation noch?
Es klingt vielleicht ein bisschen widersprüchlich, aber ich glaube, der Spielraum ist vielleicht sogar größer als früher. Natürlich ist es die extreme Rechte, die derzeit überall Erfolge erzielt. Das Weltsystem bröselt auseinander, Militarisierungprozesse nehmen zu, wir kämpfen gegen eine autoritäre Transformation. Zugleich hatten wir in Deutschland 2024 und 2025 riesige Protestbewegungen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus; das sollte man nicht unterschätzen. Auch im sozialen Bereich und bei der Klimabewegung ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es sieht nicht rosig aus, aber die Situation ist offen. Protest, auch progressiver, kann jederzeit wieder aufbrechen.
Welche Lehren können linke Kräfte aus den damaligen Krisenprotesten ziehen?
Jene Jahre haben gezeigt, dass es nicht ausreicht, mit mehreren zehntausend oder hunderttausend Menschen auf die Straße zu gehen. Und dass auch ein linker Regierungssieg nicht ausreicht, um substanziell das System zu verändern. Wie kann es das nächste Mal besser gehen? Ich denke, dass wir uns auf sehr breite Bündnisse einlassen müssen. Das bedeutet, dass man noch viel stärker in die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft gehen muss. Linke Kräfte dürfen sich nicht einigeln, auch wenn das zu Widersprüchen und Herausforderungen führt.