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|ak 631 | Wirtschaft & Soziales

Widerstand durch »Dienst nach Vorschrift«

Streikende bei Amazon fordern betriebliche Mitbestimmung und Tarifverträge

Interview: Nina Scholz und Carolin Wiedemann

Seit 2013 wird das Amazon-Logistiklager in Bad Hersfeld immer wieder bestreikt. Zuletzt legten Anfang Oktober 2.000 Beschäftigte in sechs der neun deutschen Amazon-Zentren die Arbeit nieder. (Siehe Kasten) Der Standort in Bad Hersfeld ist das älteste Amazon-Lager in Deutschland und steht so oft wie kein anderes wegen der Arbeitskämpfe in den Medien. Christian Krähling war von Anfang an dabei. Vor sieben Jahren hat er als Weihnachtsaushilfe bei Amazon angefangen, heute arbeitet er in der Kundenberatung. Mit ihm haben wir darüber gesprochen, was die Streikenden fordern und wie sie vorgehen.

Christian Krähling, du arbeitest im Logistiklager von Amazon. Wie ist das so?

Christian Krähling: Der Umgang mit den Kollegen ist sehr gut. Das gefällt mir. Ansonsten fühlt man sich dort wie in einem Gefängnis. Jeden Tag passiert dasselbe. Die Vorgesetzten behandeln uns wie kleine Kinder. Wir sind für sie alle nur Zahlen im System. Das gefällt mir natürlich nicht.

Das scheint nicht nur dir so zu gehen. 2013 hast du den ersten Streik in Bad Hersfeld mitinitiiert, zwischenzeitlich haben an die 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitgemacht.

Ja, aber das brauchte Vorarbeit. In der Gewerkschaft waren wir vor sechs Jahren nur 15 Leute. In den Gesprächen stellten wir fest, dass wir einzeln ähnliche Probleme haben und es sich also um ein kollektives Problem handelt, um die Arbeitsbedingungen bei Amazon. Darüber sprachen wir dann mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und so traten immer mehr der Gewerkschaft bei. In einem halben Jahr erhöhte sich die Zahl von 70 auf 400 Mitglieder. Wir wollten gemeinsam Druck machen für möglichst schnelle konkrete Maßnahmen, deshalb entschieden wir uns für einen Streik.

Christian Krähling

arbeitet seit sieben Jahren im Amazon-Lager in Bad Hersfeld. Angefangen hat er als Weihnachtsaushilfe, inzwischen ist er in der Kundenberatung. Er gehörte zu den Initiator_innen des ersten Streiks bei Amazon in Bad Hersfeld 2013.

Was waren eure Forderungen?

Tarifverträge mit regelmäßigen Erhöhungen. Das haben wir zwar nicht durchsetzen können, aber trotzdem: Wir haben gewaltige Verbesserungen erreicht, vor allem der Löhne. Wir mussten aber erst einmal lernen, wie Streiken überhaupt funktioniert. Beim ersten Streik haben wir gezittert. Das war ein Warnstreik und wir fragten uns, ob auch genügend mitmachen. Mittlerweile sind wir so aufgestellt, dass wir ganz spontan zum Streik aufrufen können.

Sie streiken also weiter?

Unser eigentliches Ziel ist die betriebliche Mitbestimmung – so weit sind wir noch nicht. Alles, was wir erreicht haben, könnte die Geschäftsleitung nächste Woche auch wieder zurücknehmen.

Aber es gibt doch einen Betriebsrat in eurem Lager, oder?

Der Betriebsrat ist nicht arbeitsfähig, weil er total zersplittert ist. Es ist ein Gremium von 25 Räten, und bei der Listenwahl sind 22 konkurrierende Listen angetreten. Unser Betriebsrat ist der älteste Amazon-Betriebsrat in Deutschland, er ist ein träges Organ, in dem immer auch arbeitgeberfreundliche Betriebsräte und einige Vorgesetzte vertreten sind. Da kommen wir nicht zu einheitlichen Strategien. Deshalb müssen wir streiken. Wir wissen, wenn kein Druck mehr da ist, wird sich Amazon nicht weiterbewegen, und wir würden spätestens ab übernächstem Jahr keine Lohnerhöhungen mehr bekommen. Bevor wir gestreikt haben, gab es fünf, sechs Jahre lang keine Erhöhungen.

Es geht euch nicht nur um die Verträge und den Lohn, sondern auch um andere Aspekte der Arbeitsbedingungen, unter denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leiden.

Wir haben eine sehr hohe Krankenquote, die lag schon bei über 20 Prozent. Die Geschäftsführung verschlimmert den Druck: Sie will einen Gesundheitsbonus einführen, der Gesunde belohnt, und versucht, krankheitsbedingte Kündigungen durchzusetzen. Sie behauptet, es handle sich um Einzelfälle. Aber es ist doch klar, wie sich repressive Führungssysteme auf die Psyche der Menschen und damit auf deren Gesundheit auswirken. Bei uns kommt es vor, dass ein Kollege abgemahnt wird, weil er 16 Sekunden zu früh in die Pause geht. Solche Dinge passieren täglich. Da stehen zu Pausenzeiten Manager vor dem Pausenraum und kontrollieren, ob jemand zu früh kommt.

Ihr tragt außerdem alle Scanner bei euch, mit denen eure Arbeitsschritte permanent überwacht werden.

Der Scanner zeichnet vordergründig die Warenflüsse auf. Sprich: Die Ware liegt im Regal, ist dort virtuell verbucht, jedes Regal hat eine Kennzeichnung mit Barcode und jeder Artikel hat natürlich auch einen Barcode. Das System weiß also, welcher Artikel in welchem Fach liegt. Ein Kommissionierer bekommt den Auftrag, eine bestimmte Ware zu holen. Dazu muss er immer das Fach und auch den Artikel scannen. Also weiß das System, dass der Artikel aus dem Fach entnommen wurde und auf einen Wagen gebucht wurde. Jeder Scanner ist einer Person zugeordnet, und deshalb weiß das System immer, wer den Scanvorgang durchführt. Und wann. Und so wird jeder einzelne kleine Arbeitsschritt aller Mitarbeiter aufgezeichnet – und kann auch im Nachhinein überprüft werden. Amazon kann darüber ausrechnen, wer wann wie lange auf der Toilette war.

Arbeitskampf bei Amazon

Anfang Oktober streikten rund 2.000 Angestellte an sechs deutschen Amazon-Standorten. Amazon erhöhte vor kurzem geringfügig die Löhne, jedoch weigert sich der Konzern, seine Mitarbeiter_innen nach dem Tarifvertrag für den Versand- und Einzelhandel zu bezahlen. Seit 2013 wird regelmäßig in deutschen Amazon-Lagern gestreikt. Die Streikenden wurden von Solidaritätsbündnissen, unter anderem durch Kundenboykotts, unterstützt. Mehr zu den Entwicklungen der Streiks kann man in ak 606, 607 und 611 nachlesen. Zur Unterstützung für den Kampf der Streikenden ist eine Aktionswoche zum Black Friday am 24. November geplant. Unterstützer_innen wollen einen Amazon-Standort in Berlin am »Schnäppchentag« blockieren: blackfriday.blackblogs.org

Und das passiert?

Das System war sogar so programmiert, dass es »Inaktivitätsprotokolle« erstellt, dass es Alarm schlägt, wenn jemand zu lange nichts gescannt hat. Dann wurden die Mitarbeiter direkt von den Managern angesprochen und gefragt, warum es Probleme gibt. Aber wir haben es geschafft, das über den Betriebsrat zu unterbinden.

Die Daten werden dennoch aufgezeichnet. Wisst ihr, wo und wie lange sie gespeichert werden?

Wir wissen nur, dass die Daten nicht nur in Deutschland, sondern mindestens auch in den USA gespeichert werden. Angeblich auch in Luxemburg. Wir lassen uns jetzt beraten von Datenschutzexperten und versuchen, die offenen Fragen zu klären. Und wir fordern, dass man die Daten anonymisiert. Es ist okay für uns, wenn man sieht, dass möglicherweise im Ablauf etwas nicht stimmt. Aber es ist nicht okay, Protokolle zu einzelnen Mitarbeitern aufzuzeichnen, auf deren Basis die Person dann vielleicht gekündigt wird.

Kam es denn schon vor, dass jemandem der Vertrag aus diesem Grund nicht verlängert wurde?

Die Gründe werden meistens nicht genannt, aber wir können davon ausgehen, dass Amazon auf Basis der einzelnen Leistungsprofile über die Verträge der Mitarbeiter entscheidet. Das haben auch Gespräche mit Teamleiterinnen und Managern bestätigt. Eine erfahrene Datenschutzexpertin, die jetzt mit uns zusammenarbeitet, nannte es das menschenverachtendste Überwachungssystem. Sie hätte so etwas noch nie erlebt. Auch deshalb streiken wir natürlich.

Habt ihr Kontakt zu anderen Streikenden in Leipzig oder Polen?

Wir haben ein breites Netzwerk, das wir von Anfang an auch auf Basisebene, also unabhängig von der Gewerkschaft aufbauen wollten. Trotzdem unterstützt ver.di den Streik. Wir haben Kontakt zu allen anderen Standorten in Deutschland, zu den beiden polnischen und zwei französischen Gewerkschaften und nach Spanien und Italien. Über Facebook haben wir auch Kontakte in die USA.

Kann Amazon auf andere Länder ausweichen, wenn ihr streikt, oder streikt ihr gemeinsam?

Wir versuchen, unseren Streik zu koordinieren, aber das ist schwierig, weil es unterschiedliche Gesetzgebungen gibt, wie gestreikt werden darf. In Polen etwa gibt es eine 50-Plus-Regel. Eine Gewerkschaft gilt dort erst als vertreten in einem Betrieb, wenn über 50 Prozent der Belegschaft dafür stimmen. Es gab aber trotzdem gemeinsame Aktionen. Mit Frankreich haben wir schon gemeinsam gestreikt.

Gibt es andere Arten, Widerstand zu leisten, jenseits von Streik?

Bei den Kollegen ist der »Dienst nach Vorschrift« sehr beliebt. Es gibt eine Unmenge an Vorschriften und Arbeitsanweisungen bei Amazon, und wenn man die wirklich alle verfolgt, dann kann man eigentlich nicht mehr richtig arbeiten. Da wird etwa vorgeschrieben, wie ich mir die Schuhe zu binden habe, wie ich die Toilette nutzen soll, wie ich mich am Treppengeländer festhalten soll beim Herunterlaufen. Als wären wir kleine Kinder. Und wenn man das eben alles genauso ausführt, wie es in den Broschüren steht, dann verliert man sehr viel Arbeitszeit. Ein Kollege war sehr konsequent darin, woraufhin er Ärger bekommen hat mit der Geschäftsführung – aber die konnten ihm nichts nachweisen, schließlich hat er nur »Dienst nach Vorschrift« gemacht.

Carolin Wiedemann

ist Soziologin und Journalistin. Sie schreibt vor allem über Geschlechterverhältnisse, digitalen Kapitalismus und Rechtspopulismus. Von ihr erschien zuletzt das Buch »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats« im Verlag Matthes & Seitz.

Nina Scholz

arbeitet als freie Journalistin in Berlin.