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Uneinige Bourgeoisie

Der Haushaltsstreit offenbart die Schwierigkeiten der herrschenden Klasse, den Konsens aufrechtzuerhalten

Von Ingo Schmidt

Wegen der Entschädigung von Flutopfern im Ahrtal könnte die Schuldenbremse dieses Jahr ausgesetzt werden. Und dann gibt es ja auch schon wieder neue Überflutungen! Foto: Wikimedia Commons/Martin Seifert, CC0 1.0 Deed

Die Schuldenbremse wird 2024 eingehalten. Vielleicht. Sollte der Krieg in der Ukraine mehr Geld oder die Entschädigung von Flutopfern im Ahrtal ein Sondervermögen erfordern, wird sie im laufenden Haushaltsjahr ausgesetzt. 

Kaum hatte die Bundesregierung sich Mitte Dezember auf dieses »Vielleicht-Einhalten« verständigt, begann es zu regnen. Größere Teile Niedersachsens sowie einige Gegenden Sachsen-Anhalts und Thüringens wurden überflutet. Die Kosten der Hochwasserbekämpfung und Flutschäden sind noch nicht kalkuliert, aber es ist absehbar, dass die betroffenen Landesregierungen einen Teil der Rechnungen nach Berlin schicken werden. Auch wenn niemand den genauen Zeitpunkt kennt, Klimaschäden sind absehbar. Meinte die Bundesregierung es ernst mit einer verlässlichen Finanzpolitik, hätte sie einen mit reichlich Geld ausgestatteten Notfallfonds geschaffen, statt sich an eine Schuldenbremse zu klammern, die sie dann doch wieder aussetzen muss.

Der Preis für die vorübergehende Einhaltung der Schuldenbremse: Zuschüsse für E-Autos und Sanierung von Gebäuden sowie Entgelte für die Nutzung von Stromnetzen sollen gekürzt werden. Die CO2-Abgabe wird stärker erhöht als ursprünglich geplant. Wer Bürgergeld bezieht, muss in Zukunft auf Zuschüsse zur Weiterbildung verzichten. Wer Arbeitsangebote ablehnt, kann bei dieser Transferleistung bis zu zwei Monate auf Null gesetzt werden. Die zwölfprozentige Erhöhung des Regelsatzes, früher als Hartz IV bezeichnet, wurde jedoch nicht angetastet. Statt Großangriff auf den Sozialstaat hat sich die Regierung für Nadelstiche entschieden. Unbeliebt hat sie sich dennoch gemacht. Kaum war bekannt geworden, dass Agrardiesel künftig nicht mehr subventioniert werden und die Kfz-Steuerbefreiung enden solle, rollten Trecker-Demos durch Berlin. (siehe Seite 3) Die geplante Streichung der Subventionen für Agrardiesel wurden daraufhin wieder zurückgenommen. Teilweise.

Schwerindustrie vs. Digitalökonomie

Was von den am Jahresende beschlossenen Haushaltsplänen tatsächlich umgesetzt wird, ist unklar. Die Bundesregierung bietet ein Bild der Hilflosigkeit. Dies auf die Unfähigkeit des politischen Personals zurückzuführen, griffe zu kurz. Der geschäftsführende Ausschuss der Bourgeoisie hat einen schweren Stand, weil die Bourgeoisie selbst gespalten ist. Zwischen Globalisierer*innen, die sich just-in-time die billigsten Rohstoffe, Vorprodukte und Arbeitskräfte sichern wollen, und Industriepolitiker*innen, die auf Subventionen am Standort Deutschland setzen. Zwischen Industriellen mit einem Faible für energieintensive Fertigung und Postindustriellen, die einer digital-solaren Zukunft entgegenfiebern. Und schließlich zwischen Haushaltssanierer*innen, denen die Kürzung von Sozialausgaben als probates Mittel zur Erhöhung der Arbeitsdisziplin und Senkung der Arbeitskosten gilt, und Pragmatiker*innen, die ein bestimmtes Maß sozialen Ausgleichs als Voraussetzung wirtschaftlichen Umbaus in Kauf nehmen.

Den hierfür notwendigen Konsens zu schaffen ist schwierig, weil sich frühere, auch von größeren Teilen der subalternen Klassen geteilte Hoffnungen auf Prosperität durch Globalisierung und als Belohnung für eine Phase des Gürtel-enger-Schnallens nicht erfüllt haben; zudem werden aktuelle Zukunftsentwürfe vor allem als Projekt einer kleinen Elite wahrgenommen. Die Führungsschwäche der Bundesregierung folgt den Widersprüchen innerhalb der Bourgeoisie und dem Scheitern ihres letzten großen Projekts, der neoliberalen Globalisierung, auf dem Fuße.

Der Globalisierungskonsens zerfällt

Zumindest in der Hinsicht hatte es Gerhard Schröder, der letzte sozialdemokratische Kanzler, leichter als Olaf Scholz dieser Tage. Anfang der 2000er Jahre war der Globalisierungskonsens innerhalb der Bourgeoisie unumstritten. Schröders Job bestand darin, ihn den Subalternen zu verkaufen und etwaige Opposition als ewiggestrig aussehen zu lassen. Dazu stand ihm das gesamte Arsenal neoliberaler Argumente zur Verfügung: Die Löhne müssen runter, um mit Niedriglohnstandorten konkurrieren zu können. Steuern und Staatsschulden müssen gesenkt werden, um Kapitalflucht in Steueroasen zu verhindern. Die Zustimmung zu entsprechenden Kürzungsmaßnahmen beruhte hauptsächlich auf Angst. Dabei stand die Senkung der Löhne auf chinesisches oder auch nur rumänisches Niveau nie zur Debatte. Schon deswegen, weil die Grundeigentümer*innen andernfalls auf erhebliche, aus Mieten bezahlte Teile ihrer Einkommen hätten verzichten müssen.

Dass es ohne Staats- und Privatschulden nicht geht, zeigen die USA. Während des Globalisierungsbooms hing die Weltwirtschaft von der schuldengetriebenen Konjunkturlokomotive USA ab. Die Kürzungspolitik in Deutschland diente vor allem dem Zweck, einen relativen Kostenvorteil gegenüber anderen Metropolen zu erlangen und so eine exportgetriebene Konjunktur in Gang zu setzen.

Wer Arbeitsangebote ablehnt, kann beim Bürgergeld bis zu zwei Monate auf Null gesetzt werden.

Das ist gelungen. Aber seit der Weltwirtschaftskrise 2008/09, die ausgerechnet von den USA ausging, steht das Globalisierungsmodell zur Disposition. Erstens, weil China während des vorangegangenen Booms eine wirtschaftliche Großmacht wurde, die nicht nur billige Massenprodukte liefert, sondern die Technologieführerschaft des Westens herausfordert. Zweitens, weil die USA ihre Macht stärker an Öl- und Gasexporte und die damit verbundene Kontrolle der weltweiten Energieversorgung geknüpft haben, aufgrund der geologischen Bedingungen im eigenen Land aber ein Hochkostenproduzent sind. Energielieferanten, die zu niedrigeren Kosten anbieten können, streichen dadurch satte Extragewinne ein. Das gilt auch für die Atommacht Russland. Wenig überraschend gelten China und Russland in weiten Kreisen der westlichen Bourgeoisien als Herausforderung, die es militärisch einzudämmen gilt. Westliche Konzerne und Märkte sollen mehr oder minder von den als Feind bestimmten Ländern abgekoppelt werden.

Grüne diskreditieren Ökologiepolitik

Der Umbau der im Zuge der Globalisierung entstandenen Lieferketten ist allerdings kostentreibend und geht mit erheblichen Unsicherheiten einher. Eine willkommene Gelegenheit, Profite durch Preiserhöhungen zu steigern. Zu einem guten Teil geht die jüngste Welle der Inflation von steigenden Energiepreisen aus und wird damit zu einem Problem des ökologischen Umbaus. Die Energiekonzerne spielen in dieser Hinsicht ein doppeltes Spiel. Mit reichlich Gewinnen ausgestattet, investieren sie ein bisschen in Wind- und Sonnenenergie, aber vor allem weiterhin in fossile Energieträger. Von der Regierung heißt es, steigende Preise seien ein Anreiz, den Energieverbrauch einzuschränken. 

Doch eine knappe Mehrheit der Bevölkerung kann als Mieter*in nicht selbst über energieeffizientere Heizungen in ihrer Wohnung entscheiden, und Wohnungseigentümer*innen verfügen nicht über ausreichend Geld für Wärmepumpen. Bei der Mobilität bleibt vielen für den Weg zur Arbeit nur das Auto. Manche fahren aus Trotz dicke Autos. Um zu zeigen, dass sie sich das leisten können und sich nicht von den Grünen herumkommandieren lassen. So trägt die Partei mit ihrer Politik zur Diskreditierung des Themas Ökologie genauso viel bei wie seinerzeit Schröders Agenda 2010 zur Diskreditierung der SPD als Partei des Sozialstaates. 

Zaghafte Versuche, sich von der Agenda-Politik zu lösen, sind der Zeitenwende hin zu militarisierter Außenpolitik und Kompromissen mit der Schuldenbremsen-FDP zum Opfer gefallen. Forderungen nach einer Übergewinnsteuer, die auf dem Höhepunkt der Inflation selbst von Mainstreamökonom*innen ins Spiel gebracht wurden, wurde die Förderung des Wettbewerbs entgegengesetzt. Die natürlich ausgeblieben ist. 

Rufe nach einer Vermögenssteuer sind im politischen Raum kaum noch wahrnehmbar. Sie gehörten einst zum Markenkern sozialdemokratischer Politik und fanden nach Schröders neoliberaler Wende eine neue Heimat in der Linken. Auf der Suche nach einer Anpassung ihrer Politik an den Übergang von neoliberaler Globalisierung zu Militarismus und Großmachtpolitik hat sich Die Linke gespalten und ist damit als letzte Bastion des Sozialstaats gefallen, obwohl zumindest in diesem Punkt zwischen den streitenden Parteiflügeln weitgehend Einigkeit herrschte.

Aus Mangel an einer linken Alternative mobilisiert die Alternative für Deutschland den wachsenden Frust über die Ampelkoalition. Ausgerechnet die Partei, deren neoliberaler Purismus Christian Lindner wie einen Sozialdemokraten aussehen lässt, würde die wirtschafts- und sozialpolitische Orientierung der Partei nicht von ihren nationalistischen und rassistischen Slogans übertüncht.

Ingo Schmidt

ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.