analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 678 | International

Erdoğans Baustelle

Hinter der Währungskrise in der Türkei steckt weit mehr als falsche zinspolitische Entscheidungen

Von Axel Gehring

Blick auf das an Istanbul grenzende Marmarameer, wo ein neues Mega-Projekt kürzlich Baubeginn hatte: ein Verbindungskanal Richtung Schwarzes Meer. Solche Investor*innenfreundlichen Projekte sind ein Baustein in Erdoğans Krisenstrategie. Foto: Christopher / Flickr, CC BY 2.0

Im letzten November beschleunigte sich der Abwärtstrend der Türkischen Lira einmal mehr dramatisch. Die Zentralbank hatte zum dritten Mal in Folge den Leitzins gesenkt und  Präsident Erdoğan – entgegen liberalen Lehrbuchempfehlungen – ein dauerhaft niedriges Zinsniveau angekündigt. Der abgestürzte Wechselkurs sorgte für erhebliche politische Spannungen, auch für Proteste. Um eine scharfe Zinswende zu vermeiden, versprach die Regierung den Anleger*innen ihre Wechselkurverluste zu übernehmen. Doch kaum jemand hielt dieses Versprechen für haltbar. Um den Anschein zu erwecken, dieses Manöver könnte funktionieren, veräußerte die Zentralbank letzte Fremdwährungsreserven für den Ankauf von Lira, mit dem Ziel, den Lira-Kurs zeitweilig zu stabilisieren.

Wann immer die Lira in den letzten Jahren an Wert verloren hat, rückten die zinspolitischen Vorlieben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Doch die Wirtschaftskrise des Landes ist längst nicht mehr über zinspolitische Entscheidungen bearbeitbar, ihre Ursachen liegen tiefer. Im Grunde handelt es sich bei der Währungskrise in der Türkei um die Folge einer klassischen Überakkumulationskrise, bei der das alte Wachstumsmodell kaum mehr stabile Profite erlaubt.

Während die Türkei über ein beachtliches Maß an Industrieproduktion verfügt, ist ihre Wertschöpfung begrenzt. Zudem findet auch der reproduktive Lebensalltag der Bevölkerung weitgehend innerhalb kapitalistischer Strukturen statt. Der Importbedarf allein dafür ist immens. Zudem ist die Türkei darauf angewiesen, zahlreiche und insbesondere hochwertige Komponenten und Zwischengüter zu importieren, um überhaupt exportieren zu können. Die Folge sind hohe Handels- und auch Leistungsbilanzdefizite. Um diese Lücken zu schließen und nicht in eine tiefe Wirtschaftskrise zu fallen, ist das Land auf den steten Zustrom ausländischer Investitionen angewiesen.

Hochzeiten des Neoliberalismus

Zu Hochzeiten des Neoliberalismus wurde dies durch eine investitionsfreundliche Politik erreicht, die internationales Kapital auf der Suche nach Profit ins Land lockt. Voraussetzung dafür waren günstige Rahmenbedingungen im Sinne eines niedrigen Lohnniveaus, schwachen Planungs- und Genehmigungsauflagen, eine an Geldwertstabiltät ausgerichtete Finanz- und Geldpolitik sowie umfassende Rechtssicherheit für Investitionen – nicht zuletzt durch das EU-Beitrittsprojekt. Zudem hatte die Privatisierung des einst ausgedehnten öffentlichen Sektors in der Türkei erst in den 2000er Jahren richtig an Fahrt aufgenommen und korrespondierte für einige Jahre mit der damals reichlich zur Verfügung stehenden Liquidität der internationalen Finanzmärkte. Über lange Jahre hinweg stellte die Türkei einen hochprofitablen Anlageraum für internationale Investitionen dar – dies war der ökonomische Kern des türkischen Wirtschaftswachstums bis zur globalen Wirtschaftskrise von 2007. Ab diesem Zeitpunkt wuchs der Druck auf die AKP, selbst ökonomische Akzente zu setzen, um das nunmehr fragile Wachstum zu stabilisieren.

Die AKP entschied sich gegen die bis dahin praktizierten orthodox-neoliberalen Instrumente – zu Gunsten einer expansiven Geldpolitik und einer politisch forcierten Entwicklung von Großprojekten, die die nachlassende Profitabilität der Privatwirtschaft stützen sollten. Mehr und mehr ökonomische Kompetenzen wurden in direkter Nähe Erdoğans angesiedelt. Dieser expansive Neoliberalismus forderte mit seinem Wachstumsversprechen den orthodoxen Neoliberalismus von rechts heraus und brach die Widerstände der (orthodox-neoliberalen) Fachbürokratien sowie der breiten Bevölkerung dagegen repressiv – zum Beispiel bei Protesten gegen Infrastrukturprojekte.

Zinspolitik mit Sprengkraft

Tatsächlich gelang es damit ein, wenn auch schwankendes, Wirtschaftswachstum über einige Jahre hinweg aufrechtzuerhalten. Der Preis dafür war jedoch ein Sinken des Wechselkurses. Dies belastet nicht nur die breite Bevölkerung in Form steigender Preise für Importgüter, sondern auch die großen Konzerne und wurde auch deshalb zum Gegenstand heftiger wirtschaftspolitischer Kontroversen. Wer tief in internationale Waren- und Kreditkreisläufe eingebunden ist, wird vom niedrigen Wechselkurs zuweilen hart getroffen, denn Kredit- und Importkosten steigen. Für primär auf dem türkischen Markt tätige Unternehmen wären hingegen hohe lokale Zinsen und eine straffe Finanzpolitik das größere Problem. Dies triff auf viele kleinere Unternehmen zu. Es gibt daher auch keine Zinsentscheidung, die nicht zu schweren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen führen würde. Deshalb dauert der Richtungskampf seit Jahren an.

Für die politischen Kräfte im Land wäre ein qualitativer Umbau der Wirtschaft mit hohen Risiken verbunden.

Vor allem aber ist die Krise an sich zu tief, um primär mit währungspolitischen Instrumenten bearbeitet zu werden. Ursächlich sind die hohen Handels- und Leistungsbilanzdefizite, die aus der Struktur der Wirtschaft und der Position der Türkei innerhalb der internationalen Arbeitsteilung resultieren. Nur ein qualitativer Umbau der Wirtschaft kann dies ändern. Für die politischen Kräfte im Land ist er jedoch mit hohen Risiken verbunden, denn er würde es erfordern, sich offen mit den herrschenden Klassen anzulegen, die kaum bereit sein dürften, die Transformationskosten einer solchen Umgestaltung zu tragen. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren hatte sich die kemalistische CHP an einem solchen Projekt versucht: Entwicklungsplanung in Verbindung mit einer umverteilenden Besteuerung sollte Ressourcen in eine Vertiefung der lokalen Industrieproduktion lenken und so die Abhängigkeit von Importen reduzieren. Doch nicht alles verlief im Sinne der Erfinder: Der Markt, den diese importsubstituierende Politik schuf, war relativ klein und nach außen vor Konkurrenz geschützt – auch deshalb hatten Gewerkschaftsbewegung und politische Linke mitunter effektiven Druck ausüben können, ohne selbst internationale Standortkonkurrenz fürchten zu müssen. Im Interesse der führenden ökonomischen Klassen putschten die Türkischen Streitkräfte und öffneten so 1980 final den Weg in die Neoliberalisierung.

Wege aus der Krise?

In der bürgerlichen Opposition gibt es heute Sehnsüchte nach einer Rückkehr zur vermeintlichen Stabilität der 2000er Jahre. Doch ob sich die heutige CHP, sollte sie erneut an die Regierung kommen, überhaupt noch zu einer solchen Reform durchringen könnte, ist fraglich; nicht zuletzt wurden die letzten großen IWF-Reformen 2001 unter ihrer Ägide verabschiedet – sie hatte damit der anfänglich orthodox-neoliberalen Agenda der AKP die Blaupause geliefert.

Auch für die linke HDP bildet die aktuelle Krise eine Herausforderung, der sie kaum gewachsen ist. Ihr oft einsam geführter Kampf gegen den Autoritarismus der AKP band in den letzten Jahren erhebliche – gerade auch konzeptionelle – Ressourcen. Sie fehlen bei der Entwicklung implementierbarer wirtschaftspolitischer Alternativen. Durch die Militarisierung der kurdischen Frage ist es der AKP in den letzten Jahren gelungen, Konfliktlinien zu definieren und so der sozialen Frage innerhalb der HDP-Oppositionspolitik den Wind aus den Segeln zu nehmen.

So sind es gegenwärtig auch nicht die Oppositionsparteien, sondern die AKP selbst, die de facto bereits einige Schritte hin zum Umbau der türkischen Ökonomie eingeleitet hat. In gewisser Weise hat die AKP in den letzten Jahren damit selbst das Fenster zur Importsubstitution weit aufgestoßen: Die Importkapazitäten sind durch verteuerten Fremdwährungszugang erheblich eingebrochen, das reizt dazu an, Vorprodukte verstärkt lokal herzustellen und so die eigene Industrieproduktion zu vertiefen. Hinzu kommen neue Möglichkeiten der Exportpromotion in Folge der gesunkenen Reallöhne und die gestörten globalen Lieferketten. Vor kurzem hat Hugo Boss beschlossen erhebliche Teile seiner Textilprodukte für Europa nicht mehr in Ostasien, sondern in der Türkei nähen zu lassen. Eine gewisse Rolle spielt auch der staatlich koordinierte Versuch durch die Förderung einer lokalen Rüstungsindustrie vermehrt Güter mit hoher Wertschöpfung zu produzieren und zu exportieren. Und die hohe Inflation sorgt derweil dafür, dass die breite Bevölkerung überproportional an den Kosten der de facto Neuausrichtung der türkischen Wirtschaft beteiligt wird.

Derweil erschwerte die tiefe Krise des Neoliberalismus auf internationaler Ebene die klassischen Formen orthodox-neoliberaler Krisenbearbeitung überhaupt. Denn insofern die gegenwärtige Krise des Neoliberalismus heute die Form einer Krise der Globalisierung annimmt, ist nicht mehr garantiert, dass hohe Zinsen und Privatisierungen erneut Investitionen ins Land locken und einen Boom auslösen. Die Forderungen Erdoğans ehemaliger neoliberaler Wegefährt*innen, die sich in konservativ-liberalen Kleinpartien organisieren, nach einer Rückkehr zur Politik der 2000er Jahre muten hingegen an wie aus der Zeit gefallen.

Axel Gehring

hat als Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Strukturwandel von Ökonomie, Gesellschaft, Kriegführung und Rüstung analysiert.