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An mehreren Fronten gleichzeitig

Der aktuelle Völkerrechtsbruch der Türkei in Südkurdistan erregt praktisch keine Aufmerksamkeit – das muss sich ändern

Von Ali Çiçek

PKK-Kämpfer*innen: Seit der einseitigen Beendigung des Friedensprozesses durch die türkische Regierung verfolgt diese eine aggressive Kriegsstrategie an mehreren Fronten, zuletzt wieder in Südkurdistan. Foto: Kurdishstruggle / Flickr, CC BY 2.0

Die Türkei hat unter dem Namen »Adlerklaue« (türk. »Pençe-Kartal«) eine neue Besatzungsoffensive in Südkurdistan/ Nordirak eingeleitet. In der Nacht des 15. Juni starteten etwa 20 Kampfflugzeuge vom Militärflughafen Diyarbakır (kurd. Amed). Laut Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums richteten sich die Angriffe gegen insgesamt 81 Ziele der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Doch neben den Qendîl-Bergen, in denen sich neben PKK-Camps auch von Zivilist*innen bewohnte Dörfer befinden, gehörten auch das Geflüchtetencamp Machmur (kurd. Mexmûr) und die von der Religionsgemeinschaft der Ezid*innen bewohnte Sindschar-Region (kurd. Şengal) zu den Angriffszielen der türkischen Armee.

Am Mittwoch (17. Juni) erweiterte die Türkei ihre Angriffe mit einer Luftlande-Bodenoffensive »Pençe-Kaplan« (dt. »Tigerklaue«) in der Grenzregion Haftanin. Während das türkische Verteidigungsministerium auf Twitter von einem »heldenhaften« Einsatz gegen Terrorismus spricht, melden die kurdischen Volksverteidigungskräfte der PKK Angriffe auf Zivilist*innen. Die jüngsten Attacken des türkischen Staates in Südkurdistan sind Teil einer Gewaltchronik, die wir besonders seit 2015, also seit der Wahlniederlage der AKP-Regierung und der einseitigen Aufkündigung der Friedensgespräche mit der PKK, beobachten können. Gleichzeitig sind die jüngsten Angriffe aber auch ein weiteres Kapitel in der seit 100 Jahren ungelösten sogenannten Kurdischen Frage des Nahen Ostens.

Die Strategie des »in die Knie zwingens«

Mit der Kriegsentscheidung der Erdoğan-Regierung trat der Plan »çökertme« (in etwa: »in die Knie zwingen«) in Kraft: die politisch-militärische Offensive zur Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung – Demokratisierungsmotor in der gesamten Region – und die Unterwerfung nicht nur der kurdischen, sondern aller demokratischen oppositionellen Kräfte innerhalb der Türkei. Türkische Staatsvertreter sprachen vom sogenannten Sri-Lanka-Modell beziehungsweise von der »tamilischen Lösung«, was bedeutet, dass der Aktionsraum der kurdischen Freiheitsbewegung zunächst auf einen geographischen Raum eingegrenzt werden soll, bevor es zum Vernichtungsfeldzug kommt.

Eine Dimension des »çökertme«-Plans ist, den Krieg auch außerhalb des Staatsterritoriums zu führen

Vor diesem Hintergrund führt der türkische Staat heute einen Krieg an mehreren Fronten gleichzeitig: In Nordkurdistan wütet ein regelrechter türkischer Staatsterrorismus gegen die kurdische Gesellschaft und ihre politischen Institutionen, vor allem gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP). Die Kriegspolitik des türkischen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung beschränkt sich jedoch nicht nur auf Nordkurdistan. Eine weitere Dimension des »çökertme«-Plans ist die neue außenpolitische Doktrin der Türkei, den Krieg auch außerhalb ihres Staatsterritoriums beziehungsweise ihrer Staatsgrenzen zu führen. Zusätzlich zu Nordkurdistan eskaliert die Regierung unter Führung Erdoğans den Krieg in Südkurdistan (Nordirak) und in Rojava (Nordsyrien).

Während die völkerrechtswidrigen Besatzungsoperationen in Nordsyrien, sei es die Annektierung des nordsyrischen Kantons Efrîn 2018 oder die Besetzung von Girê Spî (Tall Abyad) und Serê Kanîyê (Ras al-Ain) im Oktober 2019, zwar keine Sanktionen, geschweige denn ernsthafte und scharfe Verurteilungen etwa durch die EU erfahren, aber von der internationalen Zivilgesellschaft immerhin aufgegriffen wurden, erregt der Völkerrechtsbruch der Türkei in Südkurdistan praktisch keine Aufmerksamkeit.

Die Türkei greift inzwischen nahezu täglich südkurdisches Territorium an. Insbesondere der Rückzugsraum der Guerilla wird anvisiert, da Ankara versucht, die von den Volksverteidigungskräften (Hêzên Parastina Gel – HPG) kontrollierten Regionen Südkurdistans an das eigene Staatsgebiet anzugliedern. Da diese an zivile Siedlungsgebiete grenzen, betreibt die türkische Regierung eine gezielte Vertreibungspolitik – vor allem durch die Zerstörung der zivilen Infrastruktur und durch Terror gegenüber der Bevölkerung. Regelmäßig werden Wohngebiete der Bevölkerung angegriffen und Todesopfer willkürlich in Kauf genommen. Die von der Demokratischen Partei Kurdistans (Partiya Demokrata Kurdistanê – PDK) in Hewlêr (Erbil) regierte Autonomieregion ignoriert die Besatzungsbestrebungen der Türkei, während sich der Protest der irakischen Zentralregierung in Bagdad nicht über schnell verhallende Protestbekundungen hinausbewegt.

Darüber hinaus existieren mittlerweile über 20 türkische Militärstützpunkte in Südkurdistan. Mit ihnen wird zum einen versucht, Guerillastellungen zu lokalisieren und entsprechend Angriffe der türkischen Luftwaffe zu dirigieren und zum anderen ein umfassendes System von Bespitzelung zu installieren. Begleitet werden diese Entwicklungen von einem insbesondere seit fünf Jahren intensivierten Drohnenkrieg der Türkei. Mithilfe dieser von den USA unterstützen Kriegsführung tötet die Türkei gezielt wichtige Personen der kurdischen Freiheitsbewegung und terrorisiert die Zivilbevölkerung, wie zum Beispiel im Geflüchtetencamp Mexmûr oder in Şengal.

Kriegsverbrechen als außenpolitisches Paradigma

Ihre neue Besatzungsoffensive, der innerhalb der letzten zwei Wochen bereits sieben ZivilistInnen zum Opfer gefallen sind, begründet das türkische Militär mit ihrem »Terrorismus«-Diskurs gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Völkerrechtswidrige Militäroperationen und klare Kriegsverbrechen sind in allen Teilen Kurdistans das neue außenpolitische Paradigma der Türkei geworden.

Trotz wiederholter grenzüberschreitender Operationen in Südkurdistan gelingt es der türkischen Armee und ihren Konterguerillakräften (einem System von kasernierten Spezialeinheiten, Geheimdienstnetzen, paramilitärischen Kräften und einem dichten Netzwerk von Armeestützpunkten) jedoch weiterhin nicht, die Kontrolle über die kurdischen Gebiete zu erlangen. Auch das Mexmûr-Camp trotzt mithilfe seines gesellschaftlichen Zusammenhalts dem seit einem Jahr bestehenden Embargo und regelmäßigem Beschuss durch die türkische Armee.

Es waren vor allem die kurdische Diaspora und die Zivilgesellschaft in Deutschland und Europa, die es geschafft haben, während des Angriffskrieges der Türkei auf Rojava im Oktober 2019 eine internationale Aufmerksamkeit zu schaffen, die neben der militärischen Selbstverteidigung ein wesentlicher Faktor für die Behauptung der Revolution in Rojava war. Dieselbe Aufmerksamkeit gilt es nun auch für die Entwicklungen in Südkurdistan aufzubringen, um den türkischen Vorwand, es werde »Terrorismus« bekämpft, zu entlarven und den Widerstand gegen die türkischen Angriffe zu unterstützen.

Ali Çiçek

ist Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.