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Repression und Solidarität

Die AKP-Regierung bekämpft den Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer, der nun vor Gericht steht und dort auch Unterstützung erfährt

Von Yaşar Ohle

Man sieht den Gefängniskomplex Silivri von vorne.
In Silivri sitzen (politische) Gefangene ein, und hier findet der Prozess gegen den Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer statt. Foto: CeeGee / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Immer wieder werden Anwält*innen in der Türkei zum Ziel staatlicher Repression. Zuletzt betraf dies etwa Mehmet Pehlivan, Anwalt des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu, der im Juni unter großem Aufsehen inhaftiert wurde. Alle in politischen Verfahren aktiven oder anderweitig politisch betätigten Anwält*innen laufen Gefahr, zum Ziel der AKP-Justiz zu werden.

Derzeit läuft in der Türkei ein Strafverfahren gegen den gesamten Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer: Ihnen wird vorgeworfen, Terrorpropaganda und sogenannte irreführende Informationen öffentlich verbreitet zu haben. Hintergrund dieser Vorwürfe ist, dass die Anwaltskammer am 21. Dezember 2024 eine Medienmitteilung veröffentlicht hatte, in der sie die Tötung zweier Journalist*innen verurteilte, die am 19. Dezember 2024 bei einem türkischen Drohnenangriff in Nordsyrien ums Leben gekommen waren. In den Augen des Staates handelt es sich bei den getöteten Journalist*innen um Mitglieder der PKK. Der Vorstand wies darauf hin, dass die gezielte Tötung von Journalist*innen in Konfliktgebieten einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen könnte und forderte eine Untersuchung der Todesfälle. Am folgenden Tag leitete die Generalstaatsanwaltschaft ein Strafverfahren ein. In der Anklage wird die Erklärung als »Unterstützung terroristischer Aktivitäten« gewertet.

Der Strafprozess ist nicht der einzige Angriff auf den Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer. Parallel zu diesem läuft ein Amtsenthebungsverfahren: Am 21. März 2025 hat das dafür zuständige Gericht entschieden, den Vorstand gemäß Artikel 77/5 des türkischen Anwaltsgesetzes abzusetzen, mit der Begründung, er habe sein gesetzliches Mandat überschritten, und Neuwahlen anzuordnen. Der Vorstand legte dagegen Rechtsmittel ein – während des Beschwerdeverfahrens bleibt er im Amt.

Ein politischer Vorstand

Doch warum ist genau dieser Vorstand Erdoğan und der AKP-Justiz so ein Dorn im Auge? Im Oktober 2024 fand die Wahl des neuen Vorstandes statt. Gewonnen hat ein Bündnis von linken, progressiven und kurdischen Anwaltsgruppen, das die Anwaltskammer mit einem politischen Anspruch führen will. Da der Staat seit langem versucht, die Anwaltskammern und insbesondere die Istanbuler Kammer zu schwächen, lag nahe, dass die Repression nicht lange auf sich warten lassen würde.

Bereits im Jahr 2020 wurde mit dem Gesetz über die Einrichtung mehrerer Anwaltskammern (Çoklu Baro Yasası) geregelt, dass in Provinzen mit Kammern von mehr als 5.000 Mitgliedern weitere Kammern errichtet werden dürfen, wenn 2.000 Anwält*innen hierfür unterschreiben. Insbesondere für die Metropolen – Ankara, Istanbul und Izmir – sollte auf diese Weise die Möglichkeit geschaffen werden, regierungsnahe Anwaltskammern einzurichten. Eine weitere Maßnahme zur Schwächung der größeren Kammern bestand darin, dass ihr Stimmenanteil in der Türkischen Vereinigung der Anwaltskammern (Türkiye Barolar Birligi) gesenkt wurde. 

»Das Verfahren schwebt die ganze Zeit über uns. Es rückt natürlich manchmal in den Hintergrund, aber es ist immer präsent«, sagte Ibrahim Kaboğlu, Präsident der Anwaltskammer, in einem Gespräch im Juli 2025. Nichtsdestotrotz setzt der Vorstand der Istanbuler Kammer seine politische Arbeit fort. Dazu gehörte etwa die Betreuung der Hunderten Festgenommenen und später Inhaftierten und die Skandalisierung der Justizwillkür während der Proteste im Zusammenhang mit der Festnahme von Imamoğlu im März dieses Jahres. Doch aufgrund des laufenden Strafverfahrens droht dem gesamten Vorstand nun selbst die Inhaftierung.

Am 28. und 29. Mai 2025 begann die Verhandlung unter den Augen vieler türkischer Kolleg*innen und auch einer größeren Delegation internationaler Anwält*innen. Bereits im Vorfeld hatten diverse internationale Organisationen sich zu dem Verfahren geäußert und die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Kammern und die Freie Advokatur kritisiert.

Die Verhandlung wurde im Gerichtssaal im Silivri-Gefängnis-Komplexes abgehalten, in dem unter anderen auch Imamoğlu inhaftiert ist. Im zentralen Gerichtssaal dort, der beinahe die Größe eines Fußballfeldes hat und Platz für rund 350 Angeklagte bietet, wirkten die elf Angeklagten fast verloren. Auf den Plätzen der Verteidigung hatten circa 150 Kolleg*innen aus der Türkei Platz genommen, auch um symbolisch zu verdeutlichen, dass die Anwaltschaft aus dem ganzen Land gegen die Angriffe der Regierung zusammenhält. Der Prozess begann, wie in türkischen Strafprozessen üblich, mit Verteidigungsreden. Kaboğlu, der auch ehemaliger Universitätsprofessor für Verfassungsrecht ist, erkannte in der freien Meinungsäußerung der Anwaltskammern eine Grundfeste des Rechtsstaates und erinnerte das Gericht eindringlich an dessen eigene Unabhängigkeit. Zudem hielt er unmissverständlich fest, dass »ein strafrechtliches Verhalten hier nicht vorliegt«. 

Wer das Recht unterdrücken will, muss die zum Verstummen bringen, die es verteidigen.

Diese und alle weiteren Reden der Angeklagten wurden entgegen der Ermahnung des Gerichts von den anderen Anwesenden mit Applaus begrüßt. Das Vorstandsmitglied Fırat Epözdemir, gegen den noch ein weiteres Verfahren wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK geführt wird und der zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft saß, beantragte für den nächsten Tag die Erlaubnis der Abwesenheit, da – wie es der Zufall wollte – für den 29. Mai in seinem Verfahren ebenfalls ein Termin anberaumt worden war. Epözdemir wurde nach seiner Verhandlung aus der Untersuchungshaft entlassen, aber mit einer Ausreisesperre belegt, der Prozess gegen ihn soll am 16. September fortgesetzt werden.

Auf Einschüchterung ausgelegt

Am 9. und 10. September wiederum wurde der Prozess gegen den gesamten Vorstand fortgesetzt. Erneut nahmen solidarische Anwält*innen aus der Türkei und eine Delegation von Anwält*innen aus verschiedenen europäischen Ländern zur Beobachtung teil. Am zweiten Tag kam sogar ein Vertreter des deutschen Konsulats.

An beiden Tagen wurden die Verteidigungsreden der Angeklagten und die Stellungnahmen der Verteidigung fortgesetzt. Viele prangerten die Verfassungswidrigkeit des Verfahrens an, es wurde auf die Meinungsäußerungsfreiheit verwiesen. Einige Angeklagte verweigerten es allerdings auch, eine Verteidigungsrede zu halten und begründeten dies damit, dass bereits die Durchführung des Verfahrens in dem Hochsicherheitssaal in Silivri verfassungswidrig sei. Neben der Verlegung des Verfahrens in den sogenannten Justizpalast Çağlayan in der Istanbuler Innenstadt wurde der sofortige Freispruch in allen Anklagepunkten beantragt – beide Anträge lehnte das Gericht ab; gegen die Ablehnung der Verlegung hat die Verteidigung Beschwerde eingelegt.

Rechtsanwältin Ursula Groos, die als Vizepräsidentin und Menschenrechtsbeauftragte der Berliner Rechtsanwaltskammer vor Ort war, berichtet, dass in dem großen Saal sehr viel türkische Militärpolizei präsent war. Allgemein habe die Stimmung repressiv gewirkt: »Das ganze Setting ist offensichtlich auf Einschüchterung ausgelegt. Das zeigt sich etwa daran, dass das Gericht und die Staatsanwaltschaft gute zwei Meter über allen anderen sitzen.« Eine Kommunikation zwischen Verteidigung und Angeklagten sei dort nicht möglich: Die Sitzplätze sind getrennt, dazwischen stehen und sitzen weitere Gendarmen.

»Das ist ganz allgemein kein angemessener Rahmen für ein Strafverfahren, wo es darauf ankommt, dass vertrauliche Gespräche zwischen Angeklagten und Anwält*innen möglich sind. Entweder man schreit durch den Saal oder muss sich an den Militärpolizisten vorbeidrängeln. Die klare rechtsstaatliche und professionelle Haltung meiner Kolleg*innen trotz dieser Umstände beeindruckt mich sehr«, erklärt Groos.

Am Strafverfahren gegen den Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer wird deutlich, dass das Erdoğan-Regime ununterbrochen darauf bedacht ist, jegliche Opposition gegen seine Herrschaft zu beseitigen. In den zahllosen politisch motivierten Strafverfahren drückt sich dabei die willkürliche Verwendung der Justiz zu diesem Zweck aus. Durch die Verfolgung auch von Anwält*innen soll der Widerstand gegen diese Willkür gebrochen werden. Eine türkische Anwaltskollegin beschrieb dies im Juli 2025 so: »Wer das Recht unterdrücken will, muss die zum Verstummen bringen, die es verteidigen.«

Bis zur Fortsetzung des Prozesses Anfang Januar wird sich zeigen, ob zumindest die Verlegung in die Innenstadt erreicht werden kann, was ein Teilerfolg wäre. Auch wenn dies angesichts der enormen Vorwürfe und der drohenden Haftstrafen wie ein unbedeutender Sieg wirken mag, ist es wichtig, um jede einzelne Rechtsverletzung zu kämpfen und nicht klein beizugeben. Zum einen, um die Justizwillkür nicht gewinnen zu lassen, zum anderen aber auch, um zu verhindern, dass das heute noch als willkürliche Ausnahme erscheinende Vorgehen morgen normalisiert ist. Für die Anwält*innen in der Türkei wird es auch in Zukunft darum gehen, sich dagegen effektiv zur Wehr zu setzen. Dafür kommt es auch auf fortlaufende internationale Solidarität an.

Yaşar Ohle

arbeitet mittlerweile als Rechtsanwalt für Straf- und Migrationsrecht in Berlin und ist regelmäßig im Rahmen von Prozessbeobachtungsdelegationen für den RAV Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. in der Türkei.