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Casting zur Ausbeutung

Der Fall Rammstein wird zum rechten Kulturkampf

Von Pajam Masoumi

Feuer frei statt Aufarbeitung: Rammstein tourt weiter durch die Lande. Foto: Dennis Radaelli, CC BY-SA 4.0

Gegen Till Lindemann, Sänger der Band Rammstein, werden Vorwürfe sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch erhoben. Die Aussagen der betroffenen Frauen zeichnen ein Spektrum von Erfahrungen mit Lindemann. Die Betroffenen wurden augenscheinlich von einer Frau, Alena M., im Umfeld Lindemanns angeworben, um anschließend durch ein mehrstufiges Auswahlsystem bei der sogenannten After-Aftershow-Party auf Lindemann zu treffen. Diese Partys sollen »Privatpartys« des Sängers gewesen sein, organisiert von Joe L., Drummer der aktuellen Vorband Rammsteins.

Recherchen der Süddeutschen Zeitung zeigen, dass nicht nur Alena M. Frauen für die After-Party rekrutiert haben soll. Stattdessen sollen rund ein halbes Dutzend weitere Menschen involviert gewesen sein, darunter Joe L., ein ehemaliger Bodyguard Lindemanns, sein ehemaliger Manager sowie mindestens eine Freundin von Alena M. Seit 2019 soll es auf diesen Partys auch zu Sex bzw. sexualisierter Gewalt mit jungen Fans und eingeladenen Frauen gekommen sein. Nach Recherchen des RND sind Alena M. und Lindemann seit 2013 miteinander in Kontakt.

Über diese Vorwürfe hinaus ergeben Recherchen des Spiegels, dass Lindemann vor einigen Jahren eine Beziehung mit einer damals 15-Jährigen geführt haben soll. Die Betroffene selbst sagt rückblickend, sie hätte die Situation nicht überblicken können, da sie viel zu jung gewesen sei. Lindemann war zu dem Zeitpunkt 47 Jahre alt. Kennengelernt haben sich die beiden in einem Urlaub, organisiert von einem Bandmitglied. Nach Ende der Beziehung soll ein weiteres Bandmitglied von dem Verhältnis erfahren haben, so dass drei der vier Bandmitglieder informiert waren.

Weitere Personen erhoben Vorwürfe gegen den Keyboarder Christian »Flake« Lorenz.

Bereits jetzt gibt es durch die Band veranlasste Abmahnungen gegen diverse Medien und Betroffene. Bisher gilt die juristische Unschuldsvermutung gegenüber Lindemann. Wie so oft bei Fällen sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch steht Aussage gegen Aussage. Jedoch gibt es viele Indizien, die die Aussagen der Frauen stützen, viele der mutmaßlich Betroffenen geben Erklärungen an Eides statt ab und die schiere Masse und die Übereinstimmungen in den unabhängigen Erzählungen zeichnen ein Bild des Sängers, das vielleicht nicht für ein juristisches Urteil reicht, jedoch für ein ethisches und politisches.

Nicht bestreiten lässt sich ebenfalls, dass Lindemann Misogynie und exzessive Männlichkeitsbilder vor sich hertrug, ob nun als Lyrisches Ich, Künstler oder Privatperson.

Neben Vergewaltigungslyrik, Gewaltpornografie und NS-Männlichkeitsästhetik, welche er als »Kunstfigur« zelebrierte, scheint Lindemann als Privatperson ebenfalls an ein naturgegebenes Verhältnis zwischen Geschlechtern zu glauben. So lassen sich zumindest die Interviews interpretieren, die er unter anderem mit seinem Freund Joey Kelly gab. In einem solchen sagte er, man könne nichts gegen die Urinstinkte tun und dass Freundschaften zwischen Männern und Frauen nur möglich seien, »wenn man sie vorher gepoppt hat, dann vielleicht schon«. Joey Kelly sah das auch so.

Nach den Vorwürfen stiegen die Verkaufszahlen

Die Feministin Rita Laura Segato arbeitet in ihrem Buch »Wider die Grausamkeit« heraus, wie sich »das Mandat der Männlichkeit« über die Ausbeutung und Abwertung von Weiblichkeit konstituiert und immer wieder neu bewiesen werden muss. Mit dieser Analyse lässt sich erklären, weshalb die Verteidigung und Relativierung von Machtmissbrauch zu einem Kulturkampfthema der Rechten werden konnte, das dankend über politische Spektren hinweg aufgenommen wird. Gegenstand der Verteidigung ist nicht allein die juristische Unschuldsvermutung oder der idealisierte Prominente, es ist das eigene, konservative Bild der Geschlechterrollen.

Es wird kaum jemanden wundern, dass sich nach Bekanntwerden der Vorwürfe Fans der Band mit Rammstein solidarisierten. So wird jeder verteidigende Twitterkommentar zur Bestätigung der eigenen Identität, der Kauf einer CD zum vermeintlich widerständigen Akt gegen »Gender«- und »Woke-Ideologie«. Forderten Rechte früher die Todesstrafe für Kinderschänder, ist die Losung heute: Freiheit ist, was legal zu sein scheint oder wenn es vermeintlich keine Beweise für Unrecht gibt. Dem können sich guten Gewissens auch Konservative und Liberale anschließen, sie würden noch den Rechtsstaat verteidigen, wenn dieser sie an die Wand stellen lässt.

In Zeiten, in denen Hunderte Frauen das erste Mal die Möglichkeit haben, über erlebte Gewalt öffentlich zu sprechen, kann sich eine radikal linke Bewegung nicht leisten, die feministischen Strömungen zu ignorieren.

Für Linke könnten die Themen Machtmissbrauch und Männlichkeit als rechtes Kulturkampfthema neue Möglichkeiten der Anschlussfähigkeit bedeuten. Seit langem arbeiten marxistische Feministinnen zu diesen Themen, schaffen es bisher aber nicht, sie über den linken oder akademischen Tellerrand hinaus publik zu machen. In Zeiten, in denen Hunderte Frauen das erste Mal die Möglichkeit haben, über erlebte Gewalt öffentlich zu sprechen, kann sich eine radikal linke Bewegung nicht leisten, die feministischen Strömungen, selbst wenn diese nicht revolutionär angelegt sind, zu ignorieren. Wenn sich Männer schon nicht dazu überwinden können, aktiv gegen Sexismus vorzugehen, der täglich Tausenden das Leben kostet, vielleicht ergreifen sie die Chance, junge Menschen zu politisieren, anstatt von vornherein die Aussichtslosigkeit linksliberaler Erklärungsmuster vorzuschieben.

Staatliche Maßnahmen greifen nicht das Patriarchat an

Einzelne Gruppen bieten bereits jetzt mehr an, als individualisierte Lösungen, Rufe nach einem schlagkräftigen Rechtsstaat und Awarenessteams. So haben Unbekannte vor dem Berliner Rammsteinkonzert den Firmensitz der Band angegriffen, im Bekenner*innenschreiben heißt es: »Die Frontscheiben wurden eingeschlagen und unter dem hässlichen Rammstein-Logo steht nun ›Keine Bühne für Täter‹. Wir solidarisieren uns mit den Betroffenen der organisierten sexuellen Gewalt durch Till Lindemann und Co. und machen klar: Für Täter wie euch gibt es Konsequenzen. Das gilt genauso für Unternehmen und Personen, die ihnen Räume oder Infrastruktur zur Verfügung stellen und Täter schützen oder unterstützen.«

Bleibt nur zu hoffen, dass mehr Linke dazu übergehen, die Potenziale zur Gesellschaftsveränderung auch in vermeintlich identitären Sparten zu entdecken.

Pajam Masoumi

ist in der Online-Redaktion bei ak.