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Pogrome und Spekulationen

Die antisemitischen Ausschreitungen im Nordkaukasus erschüttern das Bild von Stabilität, das Putin gerne zeichnet

Von Ewgeniy Kasakow

Im Vordergrund eine Statue, dahinter ein Eingang zu einem Flughafengebäude.
Ruhe vor dem Sturm: Der Flughafen von Machatschkala, Hauptstadt der russischen Teilrepublik Dagestan, war Höhepunkt antisemitischer Pogrome. Foto: Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 Deed

Ende Oktober kam es zu zahlreichen antisemitischen Ausschreitungen im muslimisch geprägten Nordkaukasus, dessen autonome Republiken zu den ärmsten Regionen Russlands gehören. So durchsuchten junge Männer in der dagestanischen Stadt Chassawjurt das Hotel »Flamingo« nach Jüdinnen*Juden. Die Videoaufnahmen zeigen, wie junge Männer fast schon routiniert Zimmer für Zimmer kontrollieren. Das Hotel hängte eine Mitteilung auf, in der es hieß, dass sich im Hotel keine Jüdinnen*Juden befänden – und auch keine rein dürften. Polizeikräfte zeigten sich den Pogromisten gegenüber kooperativ.

In Tscherkessk, der Hauptstadt der Karatschai-Tscherkessischen Republik war die Lage anders: Dort wurde eine 500 Menschen zählende Menge, die die Aussiedlung aller Jüdinnen*Juden forderte, von der Polizei auseinandergejagt. Im benachbarten Kabardino-Balkarien wiederum wurde ein noch nicht zu Ende gebautes jüdisches Kulturzentrum niedergebrannt. »Tod den Jahuds« stand auf der Bauruine.

Der Höhepunkt der antisemitischen Ausschreitungen fand unzweifelhaft am 29. Oktober in dagestanischen Hauptstadt Machatschkala statt. Über 1.200 überwiegend männliche Personen, die anscheinend aus der ganzen Region anreisten, stürmten den dortigen internationalen Flughafen. Die Menschenmenge suchte nach den Passagier*innen eines Transitflugs aus Israel.

Angeheizt von Telegram-Kanal »Utro Dagestana« (Morgen Dagestans), der dazu aufrief, den »Genozid an Moslems« zu stoppten, liefen die Männer auf der Landebahn den Bussen mit den Passagier*innen hinterher und schmissen Steine in die Busfenster. Die Bilder erreichten die russische Öffentlichkeit nicht durch die staatlichen Nachrichtensendungen, sondern über das Internet. Die staatlichen Organe waren mit der Situation sichtlich überfordert. Währenddessen begannen die »Kämpfer gegen den Genozid« die Pässe der Passagier*innen zu kontrollieren. Erst am späten Abend könnten die Sicherheitskräfte den Flughafen räumen, die Passagier*innen müssten mit Hubschraubern evakuiert werden.

Der Kanal »Utro Dagestana« wurde im Laufe des Tages mehrmals blockiert, trotzdem konnte er am Tag nach dem Pogrom zur Unterstützung von Festgenommenen aufrufen. Allerdings relativierte der Kanal mit 66.000 Abonnent*innen die Statements inzwischen – man habe nicht dazu aufgerufen, die Einrichtung des Flughafen zu demolieren (die Kosten des Sachschadens betragen 285 Millionen Rubel). Vielmehr sei es nur darum gegangen, dass sich die Jüdinnen*Juden vor laufender Kamera für Israel entschuldigen. Zudem hieß es dort: »Die Menschen in Gaza beten für euch! Sie sind stolz auf euch.«

Kurz vor dem Pogrom am Flughafen hatte es auf dem Kanal geheißen, Jüdinnen*Juden fliehen aus Israel und die ersten seien bereits im Nordkaukasus einquartiert worden. Und »Morgen Dagestan« präsentierte eine ganz eigene Version der Geschichte des Nahostkonflikts: Während des Zweiten Weltkriegs baten die Jüdinnen*Juden die Araber*innen in Palästina um Zuflucht und nahmen ihnen dann ihr Land weg. Bebildert wurde das mit zerfetzten Kinderleichen aus Gaza.

Die öffentliche Debatte in Russland versucht, alle Ereignisse in das Schema einzuordnen: »Nützt es Putin oder schadet es ihm?« Das Problem ist aber, dass es sich diesmal um ein Ereignis handelt, das sowohl für den Kreml als auch für die Opposition ein Problem darstellt. Die Tatsache, dass »Utro Dagestana« ursprünglich von Ilja Ponomarjew, einem ehemaligen linken Aktivisten und Duma-Abgeordneten mitgegründet wurde, lieferte Stoff für Debatten über eine gezielte Provokation.

Leicht vorhersehbar war, dass sich auch Rechtsradikale und Islamist*innen unter den Anti-Putin-Kräften tummeln würden.

Ponomarjew war zunächst bei den Kommunist*innen aktiv, wechselte dann zu der von der Präsidialverwaltung gegründeten Partei Gerechtes Russland. 2014 stimmte der damalige Abeordnete in der Duma gegen den Anschluss der Krim, bald darauf floh er in die Ukraine. Nach dem russischen Einmarsch im Februar 2022 begann Ponomarjew sich als Anführer der Exilopposition zu präsentieren. Das stieß jedoch in liberalen wie linken Kreisen auf Ablehnung. Ponomarjew begann mit dem Aufbau des Mediennetzwerks »Utro Fewralja« (Februarmorgen); eine Anspielung auf die Februarrevolution 1917 und dem Beginn der »Spezialoperation« am 24. Februar. Die Kanäle trugen den Namen »Utro« plus den Namen der Region. Doch schon bald wurde das Projekt wieder eingestellt. Bis auf eine Ausnahme: »Utro Dagestana«, von Anfang an erfolgreicher als die anderen Kanäle, wurde vom awarischen Unternehmer Abakar Abakarow redaktionell betreut. Doch im Juli 2022 soll die Zusammenarbeit zwischen Ponomarjew und Abakarow abgebrochen sein. Ponomarjew sagt, er habe seit Herbst 2022 keine Kontakte mehr zu »Utro Dagestana«.

Der Kanal verfolgte durchgehend eine oppositionelle Haltung zu Putin, Russlands Kontrolle über den Nordkaukasus und zum offiziellen Islam, verbreitete jedoch keine konkreten Separationsforderungen. Abakarow und sein Umfeld haben bereits 2014 Sympathien für Hamas geäußert. Es heißt, der Unternehmer soll an einer salafistischen Medrese in Istanbul studiert haben. Dass Ponomarejws Konzept, allen Anti-Putin-Kräften eine Plattform zu geben, Rechtsradikalen und Islamist*innen zunutze kommen würde, war leicht vorhersehbar.

Die russischen Staatsmedien versuchen, die antisemitischen Ereignisse als Resultat ausländischer, primär ukrainischer Geheimdienste zu erklären. Putins Kommentar lautete: »Man muss wissen und verstehen, wo die Wurzel des Bösen liegt. Wo ist diese Spinne, die versucht, mit ihrem Netz die ganze Welt zu umspannen?« Anstatt einer Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus verbreitet er also nur weitere Verschwörungserzählungen. Das Bild von Stabilität und Kontrolle, das Putin gerne vermitteln will, ist erschüttert. Es wächst der Zweifel an der Wirksamkeit des Staatsgewaltapparates, an der Loyalität der muslimischen Bevölkerung, und das Gefühl der Unsicherheit unter den Jüdinnen*Juden in Russland nimmt zu.

Ewgeniy Kasakow

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven.