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Truppen­übungs­platz Nordpol

Die schmelzende Arktis wird zukünftig ein stärker militarisierter Raum werden

Von Robert Stark

Ein Eisbär auf einer Eisscholle.
Er macht sich schon mal vom Acker, denn bald kommen die Kriegsschiffe. Foto: Gary Bembridge/Flickr, CC BY 2.0

In der Politserie Borgen ist Birgitte Nyborg Ministerpräsidentin von Dänemark. Ihre Stärke: Sie schafft es immer, einen Kompromiss auszuhandeln. In der letzten und vierten Staffel wird ein Ölfeld in Grönland entdeckt und Nyborg steht im Mittelpunkt einer geopolitischen Auseinandersetzung. Die Arktis ist aber nicht nur im Fernsehen von globalem politischen Interesse. Seitdem die Regierungen von Finnland und Schweden am 18. Mai dieses Jahres ihre Bewerbung für einen Nato-Beitritt kundgetan hatten, wird viel über diese möglichen Beitritte geschrieben. Wenige befassen sich  hingegen bisher mit der Frage, wie sich der hohe Norden und die Arktis im Zuge dieses drohenden, neuen Kalten Krieges verändern werden. Russland wird zukünftig das einzige Land des Arktischen Rates sein, dass nicht Nato-Mitglied ist, wenn Finnland und Schweden beitreten. Durch die Nachbarschaft zu Finnland bekommt die russische Föderation 1340 Kilometer mehr an Außengrenze zur Nato.

Der Arktische Rat besteht aus den USA, Kanada, Russland, den skandinavischen Ländern, Finnland und Island. Er war in den letzten beiden Jahrzehnten das wichtigste interstaatliche Forum für die Arktis. Eigentlich gäbe es genügend Streitpotenzial: Rechtlich ungeklärte Wassergrenzverläufe, nur halb offene Seerouten oder neue, größere Militärbasen. Dennoch war die Arktis auch wegen des Rates in den letzten beiden Jahrzehnten eine Region der Kooperation und des Ausgleiches – das droht sich dramatisch zu ändern.

Militär und Klima

Das letzte Mal war es in der Arktis vor 7.500 Jahren so warm wie zuletzt. Sie erwärmt sich deutlich schneller als der Rest des Planeten. Schnee fällt immer später im Jahr und die Herbste werden regenreicher. In den letzten vier Jahrzehnten ist die Eisdecke in der Arktis im Sommer um 40 Prozent geschrumpft, im Winter um zehn Prozent.  Noch vor dem Ende des 21. Jahrhunderts wird es Sommer ohne geschlossene Eisdecke rund um den Nordpol geben. Die irreversiblen Veränderungen in der Arktis werden zu politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bedeutungsverschiebungen führen. Aus der Peripherie Arktis wird ein Raum globaler Bedeutung. 

In den nächsten Jahrzehnten werden durch das schmelzende Eis neue Schifffahrtsrouten möglich sein und eventuell die Förderung von Rohstoffen in der Arktis lukrativer sein. Das weckt Begehrlichkeiten. Schon 2019 setzten die USA mit einer polternden Rede vom damaligen US-Außenminister Mike Pompeo neue Maßstäbe. Im finnischen Rovaniemi weigerte sich die US-Delegation, die Abschlusserklärung eines Treffens des Arktischen Rates zu unterzeichnen, weil vor den Folgen des Klimawandels in der Arktis gewarnt wurde. Laut Pompeo biete die schmelzende Eisdecke nur Chancen: Große Vorhaben von seltenen Erden werden vermutet, und die Fischgründe gelten als besonders ergiebig. Besonders interessant scheint die Möglichkeit, die Arktis zukünftig über die Nordostpassage (nördlich von Russland) oder die Nordwestpassage (Kanada) zu durchqueren, sollten die Sommer wirklich so eisfrei werden wie befürchtet. Besonders die Nordostpassage könnte von Südostasien nach Europa Tausende Kilometer Fahrstrecke einsparen, die sonst durch die leicht zu blockierenden Meerengen am Suezkanal und der Straße von Malakka führen. Mittlerweile werden in einer finnisch-koreanischen Kooperation sogar eisbrechende Flüssiggastanker gebaut.

In den nächsten Jahrzehnten werden durch das schmelzende Eis neue Schifffahrtsrouten und eventuell die Förderung von Rohstoffen möglich sein.

Doch die mögliche Route führt weite Strecken an Russlands Küste entlang und wird von der russischen Regierung als Binnengewässer angesehen, während viele andere Staaten die Nordostpassage als internationales Gewässer definieren. Russland bekommt mit dem Schmelzen des Nordeises faktisch eine 25.000 km lange Küstenlinie hinzu, wie der Journalist Christopher P. Cavas für das Magazin der Vereinigung der US-Militäroffiziere (MOAA) schreibt. Durch die jüngsten Konflikte ist Russland mittlerweile im Arktischen Rat isoliert, aber weiterhin wichtigster Akteur in der Arktis. Die meisten Eisbrecher sind russisch, viele Militärbasen im hohen Norden ebenso. Seine arktische Dominanz bietet vielfache militärstrategische Möglichkeiten – ein möglicher nuklearer Gegenschlag durch Atom-U-Boote ist dabei die brisanteste.

In sicherheitspolitischen Kreisen der USA blickt man in den letzten Jahren stärker auf die Arktis. Es wird von einer »Ära des strategischen Wettbewerbs« gesprochen. Im Jahr 2021 haben alle Teilstreitkräfte des US-Militärs eigene Arktis-Strategien veröffentlicht. Die US-Luftwaffe hat seit Dezember 2021 auch Mehrzweckkampfflugzeuge im alaskischen Fairbanks stationiert. Mit über 100 Kampfjets ist die Basis in Alaska die mit Abstand am meisten hochgerüstete der USA. Das Strategiepapier der US-Armee mit dem griffigen Namen »Regaining Arctic Dominance« sieht dagegen vor, viel mehr Truppen in den klimatischen Bedingungen des Nordens zu trainieren.

Nordeuropäisches Kriegswissen

Für die Ausbildung amerikanischer Soldat*innen könnte auch die Expertise der nordeuropäischen Nato-Staaten kostbar sein. In Norwegen fand mit Cold Response im März und April die bisher größte Übung der norwegischen Streitkräfte überhaupt statt.

Obwohl das Manöverformat bereits zum achten Mal durchgeführt wurde, übertraf es in seiner Dimension in diesem Jahr alle bisherigen Übungen. Mit über 30.000 teilnehmenden Soldat*innen aus fast allen Nato-Staaten, Schweden und Finnland war die Übung doppelt so groß wie in den letzten Jahren. Seit den 1950ern teilt Norwegen seine Erfahrungen in der Winterkriegsführung mit seinen Nato-Partnern.

Wenn Finnland und Schweden der Nato beigetreten sind, wird sich diese Expertise noch mehr ausdifferenzieren. Der finnische Think Tank Ulkopoliittinen instituutti (Außenpolitisches Institut) hat in einem letzten Strategiepapier vom Juli jedenfalls schon klare Ideen für die finnische Rolle nach dem Nato-Beitritt. Finnland solle sich im Baltikum engagieren, und sich, ähnlich wie andere Länder, auf einem speziellen Gebiet hervortun. Vor allem wird Finnlands Bedeutung für die nordische Flanke unterstrichen. Die Arktische See wird dabei als der einzige unangefochtene Meerzugang Russlands definiert.  Die Berater*innen wünschen sich zusätzlich die Spezialisierung auf einem besonderen Feld. Dabei solle Finnland entweder auf dem Feld zivilen Widerstands im Falle eines Krieges oder der Nato bei der arktischen Kriegsführung auf die Sprünge helfen.  Kaum nach der Veröffentlichung des Strategiepapiers schlug der Fraktionsvorsitzende der oppositionellen, konservativen Partei Kokoomus auch gleich vor, Finnland solle ein eigenes Exzellenzzentrum arktische Kriegsführung aufbauen.

China im Eis

Neben einer möglichen Konfrontation mit Russland, das traditionell tief in der Arktis verankert ist, wird auch eine strategische Auseinandersetzung in Nordeuropa mit China gefürchtet. China hatte sich in einem überraschend öffentlich klaren Signal 2018 als »nah-arktische Nation« bezeichnet, obgleich China über 1.000 km von arktischen Gefilden weg ist. Die möglicherweise bald im Sommer freie Nordostpassage wäre für China von unfassbarem Wert für seinen Export. Sie wird dabei auch als »polare Seidenstraße« bezeichnet. China versucht dabei mit allen Nordischen Staaten in einem gemeinsamen 5+1-Format zu verhandeln und diese unter die Fittiche des Megaprojekts der Neuen Seidenstraße zu kriegen. Den Nordischen Staaten war bis 2014 eine Involvierung Chinas in der Arktis wesentlich genehmer als Russland. Mit der Annexion der Krim und der chinesisch-russischen Annäherung ist man China skeptischer gegenüber geworden. Die Nato-Beitrittsgesuche von Schweden und Finnland, die jahrzehntelang blockfrei waren, ist auch in diesem Kontext zu sehen. Die Begehrlichkeiten von China, das ebenfalls mittlerweile eigene Eisbrecher baut, stoßen in Nordeuropa jedenfalls nicht mehr auf allzu offene Ohren.

Die Arktis wird ein Raum globaler Konkurrenz werden. Während Russland die Verteidigung seiner Küstenlinien im Norden weiter ausbaut, wird es nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine wirtschaftlich noch abhängiger von China werden. Obwohl eine direkte militärische Konfrontation in der Arktis unwahrscheinlich ist, wird sich das Knacken der brechenden Gletscher in den nächsten Jahren noch häufiger mit dem Antriebslärm der Kampfjets vermischen.

Den ewigen Kompromiss wie bei Borgen wird es in der echten Arktis wohl nicht geben. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verdeutlichte noch im August, dass die Nato ihr Engagement in der Arktis intensivieren würde. Bis zum Mai 2023 hält Russland noch den dann wechselnden Vorsitz des Arktischen Rates. Es ist unwahrscheinlich, dass es bis dahin überhaupt noch zu einem gemeinsamen Treffen kommt.

Robert Stark

lebt in Helsinki, arbeitet im finnischen Bildungssektor und schreibt für nd, Jungle World und ak.