analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 716 | Deutschland

Linke Zahnbehandlungen

Wieso Teile der sächsischen Linkspartei einst die Schuldenbremse mitgestalten wollten und warum das zwölf Jahre später immer noch relevant ist

Von Robin Mores

Man sieht eine Parteitagsbühne und Bodo Ramelow, der einer Person einen Blumenstrauß überreicht.
Hilft die Linkspartei mit, die Schuldenbremse zu reformieren, oder kämpft sie für ihre Abschaffung? In Sachsen war das schon einmal Thema. Foto: Die Linke Sachsen /Flickr , CC BY 2.0

Dresden, 10. Juli 2013: Auf der 80. Sitzung des sächsischen Landtags wird die Drucksache 5/12308 abgestimmt. 13 Abgeordnete stimmen dagegen, 13 enthalten sich. 102 Abgeordnete stimmen für den Antrag. Es ist ein historischer Moment in der Geschichte des Freistaates, denn hinter der sperrigen Nummer 5/12308 verbirgt sich nichts Geringeres als die erste und bis heute einzige Änderung der sächsischen Verfassung: die Einführung der Schuldenbremse unter Artikel 95. Sachsen war damit das erste Bundesland, das eine Schuldenbremse einführte.

Kurios mutete schon damals das Abstimmungsverhalten der Linksfraktion an: elf Linke-Abgeordnete stimmten dafür, elf dagegen, fünf enthielten sich und zwei fehlten. Besonders pikant: Für die nötige Zweidrittelmehrheit von 88 Stimmen hätte es die Stimmen der Linken zu dieser restriktiven Verfassungsänderung nicht einmal gebraucht.

Spätestens seit die links mitregierten Länder Bremen und Mecklenburg-Vorpommern im März dieses Jahres im Bundesrat der Aussetzung der Schuldenbremse für Aufrüstung zustimmten, wird linkes Verhalten in Parlamenten wieder rege diskutiert. Nachdem Die Linke ein paar Wochen später auch noch den zweiten Kanzler-Wahlgang für Friedrich Merz im Bundestag ermöglichte, befürchtete man beispielsweise im Jacobin-Magazin eine »Establish­mentisierung der Linken«. Der Rückblick auf die Debatte um die Einführung der Schuldenbremse in Sachsen zeigt allerdings, dass die Frage der oppositionellen Mitgestaltung von eigentlich abzulehnender Politik überhaupt nicht neu ist, sondern die Partei schon seit Jahrzehnten umtreibt. Und bald wird sie es wieder tun: Für Merz’ Plan, die Schuldenbremse in der laufenden Legislatur erneut zu reformieren, wird es auch die Stimmen der Linken-Abgeordneten im Bundestag brauchen. Der Blick zurück kann helfen, die Tragödie nicht als Farce zu wiederholen.

Privatisierungs- vs. Schuldenbremse

Auf Bundesebene war die damals noch recht junge Linkspartei von Anfang an, wenn auch mit unterschiedlicher Schärfe, gegen die Schuldenbremse. Parteivorstandsmitglied Axel Troost erklärte seinerzeit: »Die Schuldenbremse ist volkswirtschaftlich völliger Blödsinn und hochgradig schädlich.« Konsequenterweise stimmten am 29. Mai 2009 alle 45 anwesenden Linken-Abgeordneten im Bundestag gegen deren Einführung. Mit knapper Zweidrittelmehrheit konnte sie dennoch beschlossen werden. Da die Länder grundsätzlich Haushaltsautonomie genießen, mussten sie einen Umgang mit den Vorgaben aus dem geänderten Grundgesetz finden. 

Im Jahr 2012 nahm die Diskussion auch in Sachsen Fahrt auf. Der damalige Landesvorsitzende und (heute noch) Landtagsabgeordnete Rico Gebhardt konstatierte seinerzeit, die Schuldenbremse repräsentiere »das neoliberale Dogma der schwarz-gelben Landesregierung«. Er monierte völlig zu Recht: »Während SPD und Grüne laut Medienberichten ihre Zustimmung zur Schuldenbremse davon abhängig machen, dass auch andere Teile der sächsischen Verfassung in ihrem Sinne ›reformiert‹ werden, will DIE LINKE eine öffentliche Grundsatzdebatte zur Sache an sich führen.«

Konkret sollte diese Grundsatzdebatte über eine Privatisierungsbremse geführt werden. Der Linken dämmerte, dass die ausbleibenden Investitionen aufgrund der Schuldenbremse zu einer Privatisierungswelle führen könnten. Die Idee der »Privatisierungsbremse« sah vor, dass jedes Mal ein Volks- oder Bürger*innenentscheid durchgeführt hätte werden müssen, wenn öffentliches Eigentum der Daseinsvorsorge privatisiert werden sollte. Gebhardt sprach sich zudem klar gegen Hinterzimmergespräche aus und forderte einen Verfassungskonvent, dessen Ergebnis am Ende durch einen Volksentscheid hätte abgestimmt werden müssen.

Verlockung der Mitbestimmung

Es war zum damaligen Zeitpunkt bereits knapp drei Jahre her, dass die Schuldenbremse ins deutsche Grundgesetz geschrieben worden war. Es brodelte in der gesellschaftlichen Linken. Immer deutlicher wurde, dass die Schuldenbremse einen Angriff auf die Zivilgesellschaft darstellte. Doch trotz der zunächst geäußerten scharfen Kritik beteiligte sich die sächsische Linksfraktion an den Verhandlungen um eine genaue Ausgestaltung der Schuldenbremse. Dies wurde möglich durch ein Veto von Grünen und SPD, das die CDU zwang, Die Linke an den Verhandlungstisch zu holen. Der geforderte Verfassungskonvent, der diese Verhandlungen eigentlich begleiten oder gar ersetzen sollte, wurde nicht einberufen.

Der Widerstand der Bundespartei gegen ein Mitmischen der sächsischen linken Abgeordneten wurde daher zunehmend größer. Die Fraktionsvorsitzenden der Linken aus Sachsen wurden u.a. zu Gesprächen nach Berlin geladen. Auf einem sogenannten kleinen Parteitag zog der Landesverband dann die Notbremse. Den sächsischen Landtagsabgeordneten wurde mit Nachdruck empfohlen, sich nicht weiter an den Verhandlungen zu beteiligen. Rico Gebhardt bezeichnete dies als »ernüchternd«. Nach seiner »festen Überzeugung hatten wir nun in den Verhandlungen der ›Schuldenbremse‹ in Sachsen ihre unsozialen Zähne gezogen und wichtige Essentials unseres LINKEN Markenzeichens in die Vereinbarung geschrieben«. Diese »wichtigen Essentials« waren im Kern die drei Wörter »des sozialen Ausgleichs« in Artikel 94 der Landesverfassung. Dieser Zusatz sollte bei der Aufstellung von Landeshaushalten gleichrangig berücksichtigt werden. Inwiefern damit das »neoliberale Dogma« der Schuldenbremse gebrochen wurde, ist zwölf Jahre später noch immer völlig unklar.

Der Blick zurück kann helfen, die Tragödie nicht als Farce zu wiederholen.

Die noch einige Monate zuvor geforderte Privatisierungsbremse ließ die Linken-Fraktion als Verhandlungsgegenstand fallen. Laut dem Abgeordneten (und heutigen Leipziger Stadtrat) Enrico Stange hörte diese sich zwar toll an, sei aber verfassungsrechtlich ohnehin viel zu kompliziert gewesen. Für die damalige Landesvorsitzende (und heutige Bundestagsabgeordnete) Caren Lay wäre aber genau diese Privatisierungsbremse der Mindestpreis gewesen, unter dem es Die Linke nicht hätte machen dürfen.

Berliner Marionetten

Auch die Grünen und sogar die CDU fanden das Ausscheiden der Linken aus den Verhandlungen »ernüchternd«. Der CDU-Fraktionsvorsitzende lobte Gebhardt »für seine zwischenzeitlich realistische Vorgehensweise«, auch wenn diese »in den eigenen Reihen keine Mehrheit gefunden hat und sich die linke Parteibasis in Sachsen von Berlin zu Marionetten degradieren und fernsteuern lässt. Für das große Ziel, die solide Finanzpolitik in die sächsische Verfassung aufzunehmen und auf eine Neuverschuldung zu verzichten, brauchen wir die Linken aber Gott sei Dank im Sächsischen Landtag nicht. Dennoch rechne ich mit der einen oder anderen Stimme auch aus der Linksfraktion.« Entgegen den Wünschen der CDU beschloss der Landesparteitag der Linken, wenn auch recht allgemein gehalten, am 27. April 2013: »DIE LINKE.Sachsen hält die Schuldenbremse im Grundgesetz Artikel 109 für ein ungeeignetes Mittel für nachhaltige Gestaltungspolitik.« Darüber hinaus wurde beschlossen, dass Regionalkonferenzen zur Diskussion der Verfassungsänderungen durchgeführt werden sollten. 

Auf einer solchen Regionalkonferenz räumte Stange ein, dass man einen Haushalt aufgrund des Haushaltsgrundsatzes des »sozialen Ausgleichs« erst nach dem Beschluss anfechten könne und eine Verfassungsklage frühestens auf den nächsten Haushaltsplan Auswirkungen hätte. Dieser »praktische[r] Erfolg steter linker Politik« wirkte damit nachträglich eher wie ein praktischer Papiertiger. Dass die damals schon etwa von Lay geäußerten Zweifel an der Wirksamkeit des Haushaltsgrundsatzes des sozialen Ausgleichs nicht ganz unberechtigt waren, zeigt sich daran, dass es bis heute keine einzige derartige Klage gab. 

Während sich die Befürworter*innen der »Mitgestaltung« der Schuldenbremse in der sächsischen Linken zunehmend darauf beriefen, dass der Kampf gegen die Schuldenbremse auf Bundesebene verloren worden sei und sie daher so oder so auf Landesebene eingeführt werde, hielt es Lay für falsch, trotz all der gültigen Gegenargumente für deren Einführung zu stimmen: »Wenn man der Argumentation folgt, dass die Schuldenbremse schlecht ist, dann ist es die Aufgabe der Linken, in die Oppositionsführerschaft zu gehen und unsere Aufgabe darin zu sehen, Mehrheiten zu organisieren, die die Einführung der Schuldenbremse in Sachsen verhindern.« 

Der »Sprung zur Gestaltungspartei«

Warum stimmten – wie der CDU-Fraktionsvorsitzende schon gefrohlockt hatte – trotzdem elf linke Abgeordnete ohne Not für die Verfassungsänderung? Zum einen ist der Anpassungsdruck für Linke in Parlamenten immens. Gebhardts These: Die Teilnahme an den Verhandlungen hätte Die Linke »aus langjähriger politischer Isolation in Sachsen herausgeführt«. Vielleicht hilft dies auch zu erklären, warum Heidi Reichinneck nach dem ermöglichten zweiten Kanzler-Wahlgang Merz freundlich lächelnd die Hand schüttelte.

Zum anderen fand ein Jahr nach der Abstimmung über die sächsische Schuldenbremse die nächste Landtagswahl statt. Einige wollten den »Sprung von der reinen Oppositions- zur Gestaltungspartei auf Landesebene« wagen. Konstante Stimmverluste der CDU ließen Rot-Rot-Grün zunehmend realistisch erscheinen. 

Es geht also immer auch um politische Grundüberzeugung und Strategie, um die Frage: Warum und zu welchem Zweck ist Die Linke in Parlamenten? Fakt ist: Zur letzten sächsischen Landtagswahl wollten 16 Prozent weniger als damals ihre Stimme dieser Partei geben. Ähnliches gilt in den meisten Bundesländern, in denen Die Linke als Juniorpartnerin an der Regierung mitwirkte. Häufig schon versuchte Die Linke, dem Kapitalismus seine »unsozialen Zähne« zu ziehen, machte sich damit jedoch zur Erfüllungsgehilfin ihrer Gegner*innen. Das heißt keineswegs, dass alle Reformen als lächerliches Trostpflaster abzulehnen sind. Doch muss man sich fragen, ob und zu welchem Preis sie die Partei dem selbst erklärten Ziel des demokratischen Sozialismus näher bringen. Um solche Debatten effektiv führen zu können, ist es nötig, dass die Fraktionen aller Parlamente eng an die Basis angebunden und von ihr kontrolliert werden. Denn weder bei dem hier angeführten Beispiel aus Sachsen noch bei der kürzlich durchgeführten Abstimmung im Bundesrat halfen die Vorladungen nach Berlin oder die zahlreichen Brandbriefe aus der Basis.

Robin Mores

ist aktives Linke-Mitglied in Leipzig und denkt nach dieser Recherche viel über Mandatszeitbegrenzung nach.