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Erst Flucht, dann Tod

Hogir Alay starb unter noch ungeklärten Umständen nahe einer Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Kusel – er ist kein Einzelfall

Von Katharina Schoenes

Das Bild zeigt Hogor Alay, einen 24-jährige Kurden, der vor politischer Verfolgung aus seiner Heimatstadt floh und Anfang 2023 Asyl in Deutschland suchte. Er hat schwarze kurze Haar und einen Bart. Hogir steht vor einem Schaufenster und lächelt in die Kamera.
Der 24-jährige Kurde Hogir Alay floh vor politischer Verfolgung aus seiner Heimatstadt und suchte Anfang 2023 Asyl in Deutschland. Statt Sicherheit fand er hier den Tod. Foto: Privat

Etwas mehr als zwei Monate ist es her, dass der Kurde Hogir Alay tot auf dem Gelände eines Lagers für Geflüchtete im rheinland-pfälzischen Kusel aufgefunden wurde. Zuvor war er mehrere Wochen vermisst gewesen. Sein Tod ist Ausdruck struktureller Probleme im Asylsystem, die über den Einzelfall hinausweisen.

Der 24-jährige Hogir kommt Anfang 2023 aus politischen Gründen aus der kurdischen Stadt Kızıltepe nach Deutschland und stellt einen Asylantrag. Untergebracht wird er in der »Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende« (AfA) in Kusel, einer Massenunterkunft auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne, in der mehr als 800 Geflüchtete leben. Die Umstände in dem Lager erlebt Hogir von Anfang an als schwer erträglich. Immer wieder muss er innerhalb der Unterkunft das Zimmer wechseln. Darüber wird er von Mitarbeitenden des Sicherheitsdienstes schikaniert – diese sollen ihn auch körperlich angegriffen haben.

Missstände in Kusel

Hogir will die Missstände in der AfA Kusel nicht hinnehmen und versucht mehrfach, sich bei der Heimleitung zu beschweren. Dies wird allerdings von in der Unterkunft tätigen Übersetzer*innen torpediert, die sich weigern, sein Anliegen weiterzugeben. Die Begründung: Dies schädige den Ruf der Einrichtung. Im April 2023 schickt Hogir eine Beschwerde an das BAMF. Darin thematisiert er psychische Gewalt durch Sozialarbeiter*innen und Sicherheitskräfte. Die Behörde antwortet mit einer Standardmail: Man bedaure die Situation, sei aber leider nicht zuständig, da die Unterbringung von Asylsuchenden in der Verantwortung der Bundesländer liege. Auch in der Zeit danach kritisiert Hogir gegenüber verschiedenen Stellen immer wieder die schlechten Bedingungen in der Unterkunft. Statt ihn zu unterstützen, drohen die Mitarbeiter*innen ihm nun mit Sanktionen: Wenn er sich nicht an die Regeln halte, könne das negative Auswirkungen auf sein Asylverfahren haben.

Mitte Oktober 2023 verschwindet Hogir. Am Abend des 10. Oktober telefoniert er zum letzten Mal mit seinem Vater, am Tag darauf wird er noch einmal in einem Supermarkt in Kusel gesehen. Anschließend ist er für seine Familie nicht mehr erreichbar, mit der er zuvor täglich in Kontakt stand. Hogirs in Österreich lebender Bruder wendet sich mehrfach an die Polizei in Kusel und Kaiserslautern und bittet diese darum, Hogir zu suchen. Die Beamt*innen kommen der Aufforderung allerdings nicht nach, weil keine Vermisstenanzeige vorliege. Dabei müssen Asylsuchende, die der ihnen zugewiesenen Unterkunft länger als drei Tage ohne »Verlassenserlaubnis« fernbleiben, normalerweise bei der Ausländerbehörde als »abgängig« gemeldet werden. Warum dies in Hogirs Fall nicht geschah, konnte bislang nicht aufgeklärt werden.

Mehr als drei Wochen bleibt Hogir verschwunden.

Mehr als drei Wochen bleibt Hogir verschwunden. Am Morgen des 4. November wird er schließlich erhängt in einem Waldstück auf dem Gelände der AfA gefunden. Sein Leichnam ist bereits so stark verwest, dass er nur anhand eines Tattoos identifiziert werden kann. Nach Einschätzung von Personen vor Ort kann Hogirs Leiche auf dem Gelände der AfA allerdings nicht über längere Zeit unentdeckt geblieben sein, auch aufgrund des starken Verwesungsgeruchs. Dies wirft Fragen auf: Spielt Fremdverschulden eine Rolle, wurde Hogir womöglich erst nach seinem Tod in dem Waldstück »platziert«? In den vergangenen Monaten gab es in Kusel verstärkt Mobilisierungen gegen die Aufnahme von Geflüchteten, auch der Verdacht einer rassistischen Straftat steht somit im Raum.

Laut einem Bericht der Zeitung Die Rheinpfalz vom 24. November 2023 geht die Polizei ungeachtet der vielen Ungereimtheiten zunächst von einem Suizid aus. Die Ermittlungen seien aber noch nicht abgeschlossen, unter anderem müsse das Ergebnis eines toxikologischen Gutachtens abgewartet werden. Aus Sicht von Hogirs Familie ist die Suizid-These nicht plausibel. Sie hat Anwält*innen beauftragt, um weitere Ermittlungen zu erzwingen. Diese sollen auch die Vorgeschichte und die Umstände von Hogirs Verschwinden beleuchten.

Mit erschreckender Regelmäßigkeit

Aufklärung fordert auch die Ende November gegründete »Initiative Hogir Alay«, an der sich unter anderem die Demokratische Föderation der Kurdischen Gesellschaft Bayern-Baden-Württemberg und Aktivist*innen der Seebrücke beteiligen. Ihrer Öffentlichkeitsarbeit ist es zu verdanken, dass Hogirs Schicksal bekannt wurde – und nicht mehr ohne Weiteres von den Behörden vertuscht werden kann. Das macht die Geschichte von Hogir besonders: Sein Tod ist kein Einzelfall, in deutschen Geflüchtetenlagern kommt es mit erschreckender Regelmäßigkeit zu tatsächlichen oder vermeintlichen Suiziden. (siehe Kasten) Allerdings gibt es im Unterschied zu Hogir im Umfeld der allermeisten Verstorbenen keine Personen, die den Mut und vor allem die Ressourcen haben, um sich gegen die tödliche Gleichgültigkeit der Behörden zu wehren.

Das zeigt etwa der Fall eines 34-jährigen Geflüchteten aus dem Irak, der im Juli 2022 infolge eines Brandes in der Erstaufnahmeeinrichtung im hessischen Gießen stirbt. Die Staatsanwaltschaft kommt schnell zu dem Ergebnis, dass der Iraker den Brand selbst gelegt habe, die Ermittlungen hätten keine Hinweise auf Fremdverschulden ergeben. Mitarbeiter*innen der Unterkunft widersprechen dieser Darstellung: Der Geflüchtete sei an mehreren Stellen ans Bett gefesselt gewesen. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft widerspricht das allerdings nicht der Suizid-These. Dennoch bleiben auch im Fall des Irakers viele Fragen noch offen.

Tödliches Asylsystem

Wie viele Asylsuchende in Deutschland durch vermeintliche oder tatsächliche Suizide sterben, ist nicht bekannt. In einigen Ländern gibt es dazu parlamentarische Anfragen, eine bundesweite Erfassung existiert aber nicht. Umso wichtiger sind daher unabhängige Recherchen. Die Antirassistische Initiative (ARI) in Berlin dokumentiert seit drei Jahrzehnten die  »tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik«. Für den Zeitraum 2016 bis 2022 sind ihr 243 Suizide von Geflüchteten bekannt. (Daten für 2023 liegen noch nicht vor) Es sei aber von einer wesentlich höheren Dunkelziffer auszugehen. Die ARI stellt diese Todesfälle in den Kontext eines rassistischen Systems, das für Geflüchtete ein Leben in staatlicher Abhängigkeit, menschenunwürdigen Lagern und in Armut vorsieht, wodurch Menschen »täglich körperliche Schäden davontragen, traumatisiert werden und zugrunde gehen«.

Recherchen ergeben zudem, dass der Mann bereits vor vielen Jahren zum ersten Mal nach Deutschland gekommen war. Seine Asylanträge wurden abgelehnt, sodass er lange Zeit mit prekärem Aufenthaltsstatus in Europa lebte. Zuletzt hielt er sich in Schweden auf, von wo er nach Deutschland zurückgeschoben wurde. Ferner war bei ihm schon 2009 im Rahmen seines damaligen Asylverfahrens eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden. Zugang zu einer Behandlung bekam er nicht. Der Todesfall in Gießen erregt im Sommer 2022 vorübergehend mediale Aufmerksamkeit, gerät dann aber schnell in Vergessenheit. Nicht einmal der Name des Verstorbenen ist bekannt.

Hogirs Tod erinnert auch an das Schicksal des irakischen Kurden Schabas Saleh Al-Aziz, der im April 2017 in einem Waldstück südwestlich von Freital tot aufgefunden wird. Auch er war zuvor wochenlang vermisst. Die Obduktion ergibt, dass der 21-Jährige erfroren ist. Wie es dazu kam, wurde nie aufgeklärt. Es ist aber denkbar, dass er im Wald einen epileptischen Anfall erlitt. Schabas war 2015 nach Deutschland gekommen, weil er an Epilepsie erkrankt war und auf eine bessere medizinische Versorgung in Europa hoffte.

Nach seiner Ankunft erlebt er jedoch das Gegenteil: Aufgrund des eingeschränkten Zugangs zum Gesundheitssystem für Asylsuchende ist es für ihn schwierig, an Medikamente zu kommen. Die Versorgung chronisch kranker Menschen ist im Asylsystem nicht vorgesehen. Seine Anträge auf Kostenübernahme beim Sozialamt werden häufig abgelehnt. Die Folge: Die epileptischen Anfälle häufen sich, immer wieder muss er mit einem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht werden. Mehrere Male muss er die Unterkunft wechseln, mehrfach wird er auch in Psychiatrien untergebracht. Außerdem wird ihm ein gerichtlich bestellter Betreuer zugeordnet – ein AfD-Lokalpolitiker, der zugleich Berufsbetreuer ist.

Systematische Gleichgültigkeit

Die letzten Monate vor seinem Tod verbringt Schabas isoliert in einem Heim, das an einer Landstraße am Rande eines Waldes liegt. Nachdem der andere kurdische Bewohner ausgezogen ist, kann er sich dort mit niemandem mehr verständigen. Ein Pflegedienst soll ihm seine Medikamente aushändigen, trifft ihn aber offenbar häufig nicht an. Am Silvesterabend 2016 telefoniert Schabas zum letzten Mal mit seiner Familie im Irak, wenige Tage danach ist er verschwunden. Der Betreuer meldet ihn erst drei Wochen später als vermisst. Die Polizei kontaktiert die umliegenden Krankenhäuser und schreibt Schabas zur Fahndung aus. Im Wald sucht sie aber nicht nach ihm, weil sein Verschwinden schon so lange zurückliegt, so die Begründung der Polizei. Erst im April findet ein Förster durch Zufall den stark verwesten Leichnam.

Dass über Schabas Saleh Al-Aziz‘ Leben in Deutschland vergleichsweise viele Details bekannt sind, geht unter anderem auf eine Recherche der taz zurück. Diese interessierte sich für den Fall, weil Schabas 2016 im sächsischen Arnsdorf Opfer eines rassistischen Übergriffs geworden war. (ak 643) Im April 2017 sollte in Kamenz der Prozess gegen die Angreifer beginnen. Dort kann er aber nicht mehr als Zeuge aussagen, weil er bereits tot ist. Deshalb gab es vorübergehend Spekulationen, dass Schabas Saleh Al-Aziz umgebracht wurde, um seine Aussage vor Gericht zu unterbinden. Es ist nicht auszuschließen, dass er angegriffen wurde, bevor er im Wald erfror. Wahrscheinlicher ist aber, dass Schabas starb, »weil er vergessen wurde«, wie die taz schreibt.

Die beschriebenen Geschichten verweisen auf ein potenziell tödliches Zusammenspiel von Unterversorgung, behördlichem Desinteresse und Rassismus. Verschwinden Geflüchtete, wird dies achselzuckend hingenommen – schließlich entspricht es dem parteiübergreifend erklärten Ziel, die Zahl der Asylsuchenden zu senken. Werden sie tot aufgefunden, sind die Behörden bemüht, schnell die Akten zu schließen. Zumindest im Fall von Hogir Alay wird das hoffentlich nicht gelingen.

Katharina Schoenes

ist aktiv zu institutionellem Rassismus und arbeitet im Bundestagsbüro der Linksparteiabgeordneten Clara Bünger.