analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 669 | International

Drei Finger gegen die Junta

Die Massenbewegung gegen den Putsch in Myanmar ist auch inspiriert von den Jugendprotesten in Hongkong, Thailand oder Taiwan

Von Alexander Isele

Drei Arbeiter:innen halten drei Finger hoch
Seit Wochen demonstrieren und streiken die Menschen in Myanmar gegen den Putsch. Foto: The Confederation of Trade Union Myanmar

Die Maske ist gefallen, auch wenn sie schon zuvor das wahre Gesicht der Putschisten in Myanmar kaum verhüllt hat. Mit plumper Propaganda versucht das Militär, von seiner exzessiven Gewalt abzulenken. So ließ es etwa die bei Protesten in der Stadt Mandalay regelrecht exekutierte Kyal Sin einen Tag nach ihrer Beerdigung exhumieren, um die Behauptung zu unterstreichen, dass sie nicht durch die Sicherheitskräfte getötet worden sein könne – die Munition, mit der die 19-Jährige am Kopf getroffen wurde, werde gar nicht eingesetzt.

Kyal Sin ist nicht die einzige Tote, die die Wut der Menschen steigert und sie weiter zu Tausenden auf die Straße treibt. Mit Scharfschützen und Maschinengewehren geht das Militär gegen Protestierende im ganzen Land vor. Mindestens 60 Menschen wurden bisher getötet, viele davon mit Schüssen in den Kopf, über 2.000 Personen wurden vom Regime festgenommen. Schon beim ersten Todesopfer der Proteste versuchten die Putschisten die Öffentlichkeit zu manipulieren: Bereits am 9. Februar wurde die 19-jährige Mya Thwet Thwet Khine in der Hauptstadt Naypyidaw tödlich verwundet. Da sie hirntot war, hatte ihre Familie der Abschaltung der lebenserhaltenden Maschinen längst zugestimmt, doch die Behörden ließen dies nicht zu. Die Vermutung liegt nahe, dass die neue Putschregierung eine Märtyrerin verhindern wollte.

Die Lüge, mit der das Militär den Putsch begründete, ist als solche enttarnt: Mit der Absetzung der Regierung habe man den seit zehn Jahren andauernden Übergang zur Demokratie in Myanmar retten wollen, dafür sei ein einjähriger Ausnahmezustand nötig, der in Neuwahlen münden soll. Davor war das Land seit 1958 fast durchgehend von brutalen Militärregierungen regiert worden. Die jetzige Putschregierung gibt sich deshalb große Mühe, ihren Putsch als legitim und verfassungsgemäß darzustellen, als einen Putsch, zu dem sie nach dem angeblichen Betrug bei den Parlamentswahlen im November gezwungen gewesen sei, für den es allerdings keine Beweise gibt.

Die Geschwindigkeit, mit der die Militärs eine Technokratenregierung installiert hat, legt nahe, dass der Putsch von langer Hand geplant war. Die Putschregierung ist eine Mischung aus amtierenden und ehemaligen Militärs und Beamten. Sie bekleideten bereits verschiedene Positionen in der Regierung der militärnahen Union Development and Solidarity Party (USDP) des Ex-Generals Thein Sein, der von 2011-2016 Myanmars Präsident war. Diese neue Regierung soll umsetzen, was die dahinterstehende Junta mit dem Namen State Administration Council (SAC) der Verwaltung in Myanmar vorgibt. Diese ist zur Hälfte mit Militärs und Zivilist*innen besetzt und wird von Putschgeneral Min Aung Hlaing angeführt – ähnlich wie die Militärräte früherer Militärregierungen in Myanmar.

Die ersten Regierungsmaßnahmen – der Kauf von weiteren Impfdosen gegen das Corona-Virus sowie die Fortsetzung der Impfungen, die Ankündigung der Erarbeitung von Lockerungen des Corona-bedingten Lockdowns, die Ankündigung, den Friedensprozess mit den verschiedenen Rebellen fortsetzen zu wollen samt Ausrufung eines Waffenstillstandes für den Februar, die Öffnung sakraler Stätten unter Corona-Vorsichtsmaßnahmen, die Verteilung von Reis und anderen Gütern an die Bevölkerung, das Hinknien vor Mönchen – sind der Versuch, sich als rechtsstaatliche und sachkompetente, bessere Alternative zur abgesetzten Nationalen Liga für Demokratie (NLD) um die inhaftierte Staatsrätin und De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi zu präsentieren; gleichzeitig sind die Maßnahmen aber auch eine Charmeoffensive in der Hoffnung, die Protestbewegung zu unterlaufen und mit der Zeit abzuschwächen.

Massenbewegung des zivilen Ungehorsams

Dass dies der Putschregierung gelingen wird, davon kann derzeit nicht ausgegangen werden. Mit aller Wucht lehnt die Bevölkerung Myanmars den Putsch ab und äußert ihre Wut – erst abwartend und wie beim letzten Putsch 1988 Kochtöpfe schlagend, nun seit einem Monat in Massen auf den Straßen. Die Bewegung des zivilen Ungehorsams (Civil Disobediance Movement, CDM) legt mit Streiks Banken, Unternehmen und den Straßenverkehr lahm; sogar viele Angestellte von Behörden und Ministerien nehmen daran teil. Die Wut über den Putsch eint die Bevölkerung. Selbst Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya, von denen viele in den vergangen Jahren brutal vom Militär aus dem Land vertrieben wurden, protestieren im In- und Ausland gegen den Putsch, auch wenn sie von Aung San Suu Kyi im Stich gelassen wurden.

Auch sieben Wochen nach dem Putsch muss weiter mit Hunderttausenden Menschen gerechnet werden, die im ganzen Land täglich gegen das Militärregime demonstrieren und dessen Befehle und Verbote ignorieren – trotz der gepanzerten Fahrzeuge, die auffahren, trotz der expliziten Drohung mit Gewalt durch das Militär, trotz der nächtlichen Verhaftungswellen, trotz des Terrors, mit dem die Sicherheitskräfte die Menschen einschüchtern wollen. Ein Großteil Myanmars steht still, da Arbeiter*innen und Regierungsangestellte sich weigern, der Putschregierung zu dienen. Bis zu 80 Prozent aller Angestellten im Öffentlichen Dienst beteiligen sich am CDM, der Putschregierung ist es daher unmöglich, staatliche Funktionen aufrechtzuerhalten. Ganz vorne mit dabei sind Mediziner*innen und Pflegekräfte, die ihre Dienste oft auch in Klöstern anbieten, um nicht in staatlichen Krankenhäusern zu arbeiten. Mitten in der Corona-Pandemie sagen sie, dass die Krankheit des Militärs für das Land schlimmer sei als das Virus.

Drei Generalstreiks wurden bisher durchgeführt, wobei der zweite am 28. Februar mit mindestens 18 Toten einer der blutigsten Tage seit dem Putsch war. Trotzdem ist es dem Putschregime bisher nicht gelungen, die Proteste zu unterdrücken, verschiedener Gesetze zum Trotz, die öffentliche Versammlungen einschränken, Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren ermöglichen und die Privatsphäre aushebeln. Das Regime schaltet nachts weiter das Internet ab, setzt die nächtliche Ausgangssperre durch, raubt den Menschen mit Schüssen in die Luft ihren Schlaf, führt Razzien und Verhaftungen durch, auch bei Regierungsangestellten, die an der Bewegung des zivilen Ungehorsams teilgenommen haben. Das wirft die entscheidende Frage auf, ob die Putschregierung und die dahinterstehende Junta jemals in der Lage sein werden, das Land tatsächlich zu verwalten.

Drei Generalstreiks wurden bisher durchgeführt, am 28. Februar gab es dabei mindestens 18 Tote.

Auf den ersten Blick erscheint es erstaunlich, wie schnell sich der Widerstand in Myanmar organisiert hat. Nachdem sich die erste Schockstarre gelöst hat, gibt es seit dem 6. Februar Massenproteste. Dabei entwickelte sich schnell eine Ikonografie, die über die Sozialen Medien verbreitet wurde. Heraus stach dabei eine Hand mit nach oben gestreckten Zeige-, Mittel- und Ringfinger. Der Drei-Finger-Gruß steht in Myanmar für die drei Forderungen der Protestierenden: Freilassung von Aung San Suu Kyi und allen im Zuge des Putsches Festgenommenen, Anerkennung des Wahlergebnisses vom November und Rückzug des Militärs aus der Politik.

Der Drei-Finger-Gruß als Protestsymbol kommt allerdings nicht aus Myanmar. Die Geste stammt aus der Filmreihe »The Hunger Games«, wo sie für Solidarität in einer dystopischen Welt steht, in der Rebellen für die Freiheit gegen einen allmächtigen Tyrannen kämpfen. Als Protestsymbol tauchte sie erstmals im Nachbarland Thailand auf, nur wenige Tage nach dem dortigen Militärputsch im Mai 2014. Bereits 2006 hatten dort die Generäle geputscht, damals um den bei der armen Landbevölkerung äußerst beliebten (und für die Interessen der Elite gefährlichen) Premierminister Thaksin Shinawatra zu stürzen und um Thailand wieder auf einen reaktionären Weg zurückzubringen, fest verankert in Monarchie und Militär. 2014 wiederholte sich der Putsch von 2006 in dem Sinne, dass das Militär erneut eine von Thaksin kontrollierte Regierungskoalition stürzte, angeführt von dessen Schwester Yingluck, die 2011 in einem Erdrutschsieg gewählt worden war. Der Putsch führte zu einer fünfjährigen Junta, unter der eine vom Militär unterstützte Verfassung verabschiedet wurde, die sicherstellt, dass keine politische Partei eine Mehrheit gegen die vom Militär besetzten Sitze in den beiden Parlamentskammern erlangen kann. Nur deshalb gewann 2019 die Junta-Partei Palang Pracharat die Wahlen. Seither ist der Putschistenführer von 2014, General Prayut Chan-o-cha, Ministerpräsident.

Gegenseitige Inspiration

Erst Ende des vergangenen Jahres kam es wieder zu einer massiven Protestwelle in Thailand, die sich sowohl gegen die Regierung als auch gegen das Königshaus richtet. Letzterem wird vorgeworfen, die Putsche heimlich unterstützt zu haben, sich in der speziellen Form des thailändischen royalen Kapitalismus massiv auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern und wenig für deren Nöte übrig zu haben. Mittlerweile ist die Justiz wieder dazu übergegangen, die strikten Gesetzte gegen Majestätsbeleidigung anzuwenden. Wer die königliche Familie mit drei Fingern grüßt, läuft Gefahr, zu einer langen Haftstrafe verurteilt zu werden.

In Myanmar wurde der Drei-Finger-Gruß schon in den ersten Tagen nach dem Putsch von Arbeiter*innen im Gesundheitssektor gezeigt, wenige Tage später im ganzen Land. Für die Menschen in Myanmar und Thailand steht die Geste auch als Symbol der Freiheit, Gleichheit und für die Solidarität untereinander im Kampf gegen die jeweiligen Regierungen. Und genau wie die Geste Einzug in die Proteste in Myanmar gefunden hat, hat das Topfschlagen Einzug beim ersten Anti-Regierungsprotest in Bangkok in diesem Jahr am 9. Februar gefunden. Die Aktivist*innen in den Nachbarländern sehen sich in einem gemeinsamen Kampf für Demokratie – aber nicht nur dort, sondern in ganz Asien.

Proteste in Thailand im Spätsommer 2020.
Der aus der Buchreihe »Hunger Games« entlehnte Drei-Finger-Gruß wurde in Thailand gezeigt – und jetzt von der Anti-Putsch-Bewegung in Myanmar aufgegriffen. Foto: Milktea2020/wikimedia, CC BY-SA 4.0

Es gibt einen Begriff für die gegenseitige Unterstützung der Protestbewegungen von Thailand, Hongkong (und, wenn auch unter anderen Bedingungen, Taiwan): Milk-Tea-Alliance. Entstanden ist der Begriff als Hashtag auf Twitter vor einem Jahr, nachdem ein thailändischer Celebrity in einem Tweet Hongkong als eigenständiges Land bezeichnet hatte und chinesische Internettrolle ihn deshalb massiv anfeindeten. Dessen Follower*innen reagierten darauf genauso wie Demokratieaktivist*innen aus Hongkong und Taiwan, die sich in Memes über die chinesischen Trolls lustig machten. Deren Unwissenheit der Verhältnisse in Thailand führte dazu, dass sie letztlich die thailändische Regierung anfeindeten – was von den Demokratieaktivist*innen aus Thailand, Hongkong und Taiwan gefeiert wurde. Durch diesen Erfolg, und wegen des in allen drei Orten in jeweils spezifischer Ausführung beliebten Getränks, entstand der Hashtag #MilkTeaAlliance.

Myanmar, in dem eine besonders süße Variante von Milchtee getrunken wird, ist nun ebenfalls Teil der Allianz, so sehen es zumindest viele der Akteur*innen. Von Protestierenden aus Myanmar heißt es, sie hätten sich viel von den Protestbewegungen in Thailand und Hongkong abgeschaut, etwa das schnelle Auftauchen und wieder Verschwinden, wenn die Polizei Blockaden auflöst, nur um kurz darauf an einem anderen Ort wieder zu blockieren. In den engen Häuserschluchten Hongkongs hat diese Taktik, inspiriert von Bruce Lee und seiner von Philosophie »Be Water«, die hochgerüstete Polizei vor große Probleme gestellt. Erst der Corona-Ausbruch und die kurz darauf eingeführten drakonischen Strafen unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz haben die dortige Protestbewegung vorerst zum Erliegen gebracht.

Aus Hongkong hat sich die Protestbewegung in Myanmar aber noch mehr abgeschaut, etwa eine Livemap, auf der Polizei- und Militärbewegungen in Echtzeit eingetragen werden können und die so spontane Protestaktionen erleichtert. Das hilft der jungen Generation, sich führerlos zu organisieren. So sind es auch vor allem die Anführer*innen der Protestbewegung von 1988, die derzeit wieder verhaftet werden und die zwar bei den jetzigen Protesten mitwirken, keinesfalls aber deren Hauptkraft sind. Damals hatten Studierendenproteste die über ein Vierteljahrhundert währende Militärdiktatur zu Fall gebracht, wobei das Militär kurz darauf wieder putschte (und für 1990 Wahlen ansetzte, deren Ergebnis – ein Erdrutschsieg der NLD und Aung San Suu Kyi – sie aber nie anerkannte).

Es bleibt eine (Online-)Gemeinschaft, die durch einen gemeinsamen Kampf verbunden ist.

Dabei geht es nicht nur um den Austausch über Protesttaktiken. Vor allem ist die Milk Tea Alliance auch ein Weg, den Protest fortzuführen, obwohl er zu Hause nicht mehr möglich ist. So setzen sich thailändische Demokratieaktivist*innen für demokratische Rechte und Teilhabe in Hongkong ein, wo die Menschen aus Angst vor dem Nationalen Sicherheitsgesetz von China zum Schweigen gebracht wurden. In Thailand skandierten die Demonstrant*innen »Free Hong Kong« und schwenkten Flaggen Hongkongs und Taiwans. In Taipeh haben sich Aktivist*innen, Dissident*innen und Studierende versammelt, um ihre Unterstützung für die thailändischen und Hongkonger Proteste zu zeigen. Gleichzeitig setzen sich Hongkonger*innen für die thailändische Protestbewegung ein, kritisieren das Königshaus, ohne den strengen Gesetzen zu unterliegen, die eine Beleidigung des Königs unter Strafe stellen. Außerdem sorgen sie für Aufmerksamkeit auch für die eigene Sache: Denn wenn in Hongkong der Hashtag #StandWithThailand oder #StandWithMyanmar benutzt wird, erinnern sich alle an #StandWithHongKong.

Für den 28. Februar hatten die Milk Tea Alliance auch zu einem transstaatlichen Protesttag zur Unterstützung der Menschen in Myanmar aufgerufen, dem sich auch Aktivist*innen aus Indien und Singapur anschlossen. Während an diesen Tag Militär und Polizei in Myanmar den Generalstreik zusammenschossen, protestierten in Thailand Tausende vor der Kaserne, in der Putschgeneral und Ministerpräsident Chan-o-cha wohnt. Damit nimmt die Protestbewegung im Nachbarland wieder an Fahrt auf. Auch eine Woche später, am ersten Märzwochenende, protestierten in Bangkok Aktivist*innen, forderten eine Reform der Monarchie inklusive der Abschaffung des Gesetzes gegen Majestätsbeleidigung, den Rücktritt von Chan-o-cha, sowie die Freilassung inhaftierter Demokratieaktivist*innen – und zeigten sich solidarisch mit den Menschen in Myanmar.

Auch wenn es derzeit nicht danach aussieht, als würden die Demokratiebewegungen in Myanmar, Thailand oder Hongkong schon bald Erfolge erzielen, so bleibt doch eine (Online-)Gemeinschaft, die durch einen gemeinsamen Kampf verbunden ist, der darauf abzielt, in der gesamten Region eine Basissolidarität in Angesicht der Unterdrückung zu schaffen. Sie ist so ein weiteres Beispiel dafür, dass die Jugend der Region die von älteren Generationen aufgestellte Regeln in Frage stellt, und die in Regierungsinstitutionen Südostasiens eingeflossen sind – etwa der südostasiatischen Tradition, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Nachbarländer einzumischen.

Aber es sind nicht nur die Jungen, die voneinander lernen. Die Putschregierung Myanmars hat im Februar der Regierung Thailands einen Brief geschrieben und darin um Hilfe beim Aufbau von »Demokratie« gebeten. Das thailändische Modell der gelenkten Demokratie ohne störende Parteien würde das Militär sicher gerne übernehmen würde. Doch die Menschen im Land kämpfen weiter für ihre eigenen Vorstellungen von der Zukunft.

Alexander Isele

ist Redakteur bei der linken Tageszeitung neues deutschland. Er schreibt seit vielen Jahren über Myanmar.

Anmerkung:

Bei dem Text handelt es sich um die stark aktualisierte Fassung eines Textes, der bereits Ende Februar auf akweb.de erschienen ist.