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Wer hat, der nimmt

Die Causa Cum-Ex macht deutlich, wie einfach Umverteilung von unten nach oben funktioniert – dank politischer Rückendeckung

Von Andreas Kallert

Kanzler Olaf Scholz bei einer Erinnerungslücke im Kleingartenverein Krähenwinkel. Foto: Dirk Vorderstraße/Flickr, CC BY 2.0

In den vergangenen Jahren war es still geworden rund um die Aufklärung der Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte, bei denen sich Anleger*innen an mehrfach zu Unrecht erstatteten Kapitalertragssteuern in Milliardenhöhe bereichert hatten. Nun schlägt der Skandal wieder hohe Wellen. Im Zentrum steht dabei der Verdacht, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher, beide SPD, als damals Verantwortliche im Rathaus der Hamburger Warburg-Bank 2016 Steuerrückzahlungen in Höhe von 47 Millionen Euro ersparten. Die Steuerforderungen des Hamburger Finanzamts hatten sich aus den Cum-Ex-Geschäften der Bank von 2007 bis 2011 ergeben.

Dafür, dass Scholz und Tschentscher tatsächlich politischen Druck auf das Finanzamt ausgeübt haben, die Steuerforderungen zu erlassen, konnten jedoch auch im Zuge des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) »Cum-Ex Steuergeldaffäre« in der Hamburgischen Bürgerschaft bislang keine Beweise präsentiert werden. An Bundeskanzler Scholz prallten alle Fragen ab, die ihm in der Sitzung des PUA am 19. August 2022 stundenlang gestellt wurden: Er habe keinerlei Erinnerung an die Inhalte der mittlerweile drei nachgewiesenen (und zunächst von Scholz verheimlichten) Treffen 2016 mit Privatbankier Christian Olearius, dem Eigner der Warburg-Bank, zur Causa Steuerrückzahlung. Aber, soweit reicht seine Erinnerung dann doch: Scholz weiß schließlich ganz genau, dass es beim Verzicht der Stadt auf Rückgabe der erbeuteten Steuern kein Fehlverhalten oder politische Einflussnahme gegeben habe.

38.000 für die SPD

Zahlreiche Indizien und die auffallenden Erinnerungslücken der beiden SPD-Regierungspolitiker lassen jedoch eine aktive Einflussnahme zugunsten der politisch gut vernetzten Privatbank vermuten. Weiter erhärtet wird dieser Verdacht durch zuletzt bekannt gewordene Vorfälle. So wurde beim früheren Hamburger SPD-Finanzpolitiker Johannes Kahrs bei einer Cum-Ex-Durchsuchung in einem Bankschließfach mehr als 200.000 Euro Bargeld entdeckt. Kahrs hatte sich als Bundestagsabgeordneter bereits 2016 für die Warburg-Bank eingesetzt, um die Steuerrückzahlungen zu verhindern – sein SPD-Kreisverband Hamburg-Mitte erhielt Monate später eine Spende von 38.000 von den Warburg-Banker*innen.

Ob auch das aufgefundene Bargeld mit der Cum-Ex-Affäre zu tun hat, ist allerdings unklar. Dass solche und andere Fragen auch in Zukunft offen bleiben, dazu könnte das Löschen von E-Mails in der Hamburger Finanzverwaltung beitragen. Der ermittelnden Kölner Staatsanwaltschaft ist aufgefallen, dass es im Zeitraum 2020 auffällig wenig E-Mail- und Schriftverkehr zum Themenkomplex gab, obwohl es zahlreiche Kalendertermine vorhanden waren, was laut Ermittler*innen auf eine »gezielte Löschung zu den Themen Cum-Ex und M.M. Warburg« hindeute.

Im Fall von Cum-Cum sind bis Ende 2020 lediglich 135 Millionen Euro und damit weniger als ein halbes Prozent des Schadens beglichen worden.

Dies fügt sich in das Bild, das sich aus sichergestellten Chat-Nachrichten einer 2016 für die Warburg-Bank zuständigen Finanzbeamtin in Hamburg zeichnen lässt. Diese hatte in der Hamburger Finanzbehörde zunächst in langen schriftlichen Ausführungen für das Rückfordern der zu Unrecht erstatteten 47 Millionen Euro plädiert, sich dann aber plötzlich für den Verzicht ausgesprochen. Wenige Stunden nach diesem folgenschweren Entscheid schrieb sie einer ebenfalls im Finanzamt beschäftigten Freundin, »ihr teuflischer Plan« sei aufgegangen und ergänzte auf Rückfrage, dass man die Steuerrückforderung verjähren ließe, wenn nichts dazwischen komme. Die besagte Finanzbeamtin verweigert jegliche Stellungnahme zu diesen neuen Vorwürfen.

Doch trotz dieser immer dichter werdenden Indizienlage verläuft die politische Aufarbeitung nur schleppend und bislang für die politisch Verantwortlichen folgenlos. Immerhin steht dieser Farce mittlerweile ein engagiertes Vorgehen von Staatsanwaltschaften und Gerichten gegen die kriminellen Akteure des organisierten Griffs in die Staatskasse entgegen, die noch heute von Medien als »Steuer-Trickser« (Handelsblatt) verharmlost werden. Allein die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt in Dutzenden Fällen gegen mehr als 1.000 Verdächtige. Strafprozesse liefen und laufen an den Landgerichten Bonn, Wiesbaden und Frankfurt am Main, zumeist wegen schwerer Steuerhinterziehung. Grundlage dafür ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 28. Juli 2021, wonach die Banken nicht einfach nur eine Gesetzeslücke ausgenutzt, sondern schlichtweg strafbaren Steuerbetrug begangen haben. In diesem ersten höchstrichterlichen Cum-Ex-Urteil entschied das Gericht zudem, dass die Gewinne aus den Geschäften, trotz eventueller Verjährung, angesichts des überragenden gesellschaftlichen Interesses auch heute noch eingezogen werden können.

Gala-Dinner mit Christian Lindner

Bislang prominentester Angeklagter ist Hanno Berger, der zurzeit sowohl in Bonn als auch in Wiesbaden wegen schwerer Steuerhinterziehung vor Gericht steht. Möglich wurde dies überhaupt erst, weil der »Steuer-Guru« (Handelsblatt) nach langwierigen Verhandlungen Anfang 2022 von der Schweiz ausgeliefert worden war. Den anklagenden Staatsanwaltschaften zufolge war Berger die zentrale Figur bei den milliardenschweren Cum-Ex-Geschäften. Er kann als Steueranwalt auf viele Jahre Lobbying für die Interessen seiner reichen Klientel zurückblicken.

So intervenierte Bergers Kanzlei bereits 2009 bei dem FDP-Politiker Hermann Otto Solms, um Pläne des Finanzministeriums, die Cum-Ex-Praxis zu stoppen, zu unterbinden. Seine ausgezeichneten Kontakte reichen bis zum heutigen Finanzminister Christian Lindner (FDP): Noch im Mai 2012 nahm Lindner zusammen mit Berger an einem elitären Gala-Dinner des »Liberalen Circles« in Frankfurt teil. Wenige Monate später setzte sich Berger vor Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft in die Schweiz ab. Auch mit einem weiteren FDP-Politiker steht Berger in einem engen Verhältnis: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki war bis 2020 Bergers Strafverteidiger.

Kubicki, anfangs noch vehementer Kritiker des Steuerraubs, ist mittlerweile der Ansicht, dass bei »Cum-Ex die Sache glasklar« und der entsprechende Handel unter bestimmten Umständen legal (gewesen) sei. Doch all diese Kontakte werden Berger wahrscheinlich nichts helfen: Ihm drohen 15 Jahre Haft, seine wenigen Einlassungen und zuletzt gar ein Teilgeständnis über sein »zumindest rudimentär« vorhandenes Verständnis der Strafbarkeit von Cum-Ex-Geschäften ab 2009 werden sich kaum strafmildernd auswirken. Angeklagte, die weit weniger prominent involviert waren als Berger, sind bereits verurteilt worden, teils zu über fünf Jahren Gefängnis. Andere konnten sich dank weitreichender Aussagen über die Arbeitsweise der Cum-Ex-Netzwerke Haftreduzierungen verschaffen.

Sowohl bei Cum-Ex als auch bei Cum-Cum handelt es sich um intransparente und komplexe Finanzgeschäfte mit Wertpapieren rund um den Dividendenstichtag, einzig mit dem Ziel, sich Kapitalertragsteuer (teils gar mehrfach) erstatten zu lassen, die aber überhaupt nicht abgeführt worden war. Der hierbei eingestrichene »Gewinn« wird dann unter allen Akteuren geteilt. Das Netz aus reichen Investor*innen, (Investment-)Banken, Wertpapierhändler*innen und Rechtskanzleien weist dabei laut der Kölner Oberstaatsanwältin Anna Brorhilker mit seiner Einflussnahme auf Politik, Justiz und Medien, Einschüchterungen sowie Unterwanderung klare Merkmale der organisierten Kriminalität auf.

Verwunderlich ist dies nicht, angesichts der gigantischen Summen: Weltweit wurden seit Anfang der 2000er nach Berechnungen des Recherchezentrums CORRECTIV mindestens 150 Milliarden Euro aus den öffentlichen Kassen gestohlen. Auf Deutschland entfällt dabei mit 36 Milliarden Euro der größte Teil, gefolgt von Frankreich (33,4 Milliarden Euro) und den Niederlanden (27 Milliarden Euro). Nutznießer*innen des Griffs in die Steuerkasse waren unter anderem Geschäftsleute wie Carsten Maschmeyer und dessen Frau Veronica Ferres, Clemens Tönnies (Tönnies Holding) oder Erwin Müller (Müller-Drogerie), die sich angesichts der enorm hohen und vor allem risikofreien Renditen kaum mit Unwissenheit über die zwielichtige Praxis herausreden können.

Bislang konnten nur sehr geringe Summen von Banken und Angeklagten zurückgeholt werden. Im Fall von Cum-Cum, mit mindestens 28 Milliarden Euro der Löwenanteil des Raubs in Deutschland, sind laut Bundesfinanzministerium bis Ende 2020 lediglich 135 Millionen Euro und damit weniger als ein halbes Prozent des Schadens beglichen worden. Diese Untätigkeit liegt auch darin begründet, dass der Staat teilweise gegen die eigenen öffentlichen Landesbanken vorgehen muss, die ebenfalls in die für sie lukrativen illegalen Geschäfte involviert waren. So kooperierten etwa Sparkassen mit der baden-württembergischen LBBW bei euphemistisch umschriebenen »rendite-optimierten Dax-Aktien-Leihen«, und auch die ehemaligen Landesbanken HSH Nordbank und WestLB hatten sich am Steuerraub beteiligt: wohlgemerkt zwei Ex-Landesbanken, die politisch kontrolliert waren und als sogenannte systemrelevante Finanzinstitute während der Finanzkrise 2008 vom Staat Milliardenhilfen bekommen hatten.

Es kann weiter gehen

Doch das mangelhafte staatliche Engagement – abgesehen von einigen Staatsanwaltschaften, die enorm langwierige und komplexe Verfahren gegen die Beteiligten anstreben – zeigt sich auch darin, dass die sogenannten steuergetriebenen Geschäfte laut dem Mannheimer Steuerprofessor Christoph Spengel und der Bürgerbewegung Finanzwende weiterhin möglich sind. So hat eine von Finanzwende beauftragte Rechtskanzlei aufgezeigt, dass steuergetriebener Handel um den Dividendenstichtag »mit veränderter Struktur bis zum heutigen Tage« geschehen könnte. Zwar seien einige Konstrukte durch Gesetzesänderungen nunmehr unmöglich, neue Konstrukte nach ähnlichem Muster könnten aber weitergehen. Die Lehre aus unzähligen Skandalen im Finanzbusiness ist, dass solche Lücken von findigen Akteuren in Steuerkanzleien und Banken ausgenutzt werden. Die Aussicht auf finanziell risikofreie Millionen- und Milliardengewinne aus der Steuerkasse sind zu verlockend, als dass die drohende strafrechtliche Verfolgung personell viel zu dünn besetzter Staatsanwaltschaften nachhaltig abschrecken könnte. 

In der gegenwärtigen Zeit, in der sich Finanzminister Lindner über die Gratis-Mentalität von Nutzer*innen und Befürworter*innen des 9-Euro-Tickets echauffiert, während er selbst eine Luxus-Hochzeit feiert und mit seinem »Steuerentlastungskonzept« die Armen links liegen lässt, in der private Energieunternehmen mit der sogenannten Gasumlage von allen Verbraucher*innen unabhängig von deren Zahlungskraft subventioniert werden, in der sich der Einkauf im Supermarkt längst weit von der offiziellen Inflationsrate abgekoppelt hat und Millionen Menschen in Armut und zu völlig überforderten Essenstafeln treibt, in der eine Erhöhung der Steuer auf die so riesigen wie ungleich verteilten und ungerechten Erbschaften ebenso als leistungsfeindlich abgetan wird wie überhaupt eine Vermögenssteuer, in solch einer Zeit ist der schamlose milliardenschwere Griff in das Steuersäckel besonders schädigend für ein ohnehin bereits angeknacktes demokratisches Gemeinwesen.

Dass es recht offensichtlich politische Rückendeckung für das kriminelle Cum-Ex-Handeln deutscher Finanzinstitute gegeben hat und weiterhin eben jene politischen Akteure ungeschoren aus diesem Skandal hervorgehen, macht aus der Cum-Ex-Affäre längst potenziell eine Staatskrise.

Andreas Kallert

ist Politikwissenschaftler und hat zur Bankenrettung während der Finanzkrise 2007 bis 2009 promoviert.