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Bis sich die Balken biegen

Die sagenumwobene Geschichte vom Rondenbarg-Komplex

Von Carina Book

Es war einmal der G20-Gipfel und da kam die Polizei und machte, dass es ein Fest der Demokratie wurde. Foto: Andreas Klein/Flickr , CC BY-SA 2.0

Es gibt Geschichten, die stehen in Märchenbüchern. Und dann gibt es die Geschichten, die von Hamburger Sicherheitsbehörden geschrieben werden. Darin kommen Angriffe auf die Hamburger Davidwache vor, die es nie gegeben hat, oder imaginäre G20-Gegner*innen, die mit Eisenspeeren bewaffnet Fallen für Polizist*innen vorbereiten. Um die Polizei stets im rechten Licht dastehen zu lassen, hat man sich in den letzten Jahren einiges einfallen lassen.

Die Geschichte, um die es hier geht, soll zunächst nicht vor den Ohren der Öffentlichkeit erzählt werden. Erst wenn sie sich als gut genug erwiesen hat, könnte es sein, dass sie auch uns als Auditorium erreicht. Dabei ist das eine echte Räuberpistole, bei der mindestens 85 Beschuldigte »bewaffnete Gruppen gebildet«, sich »gemeinschaftlich des schweren Landfriedensbruchs«, der »gefährlichen Körperverletzung« und »Sachbeschädigung« und sogar des »tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte« schuldig gemacht haben sollen. Von der am 3. Dezember 2020 beginnenden Hauptverhandlung gegen fünf Jugendliche im sogenannten G20-Rondenbarg-Komplex werden wir leider nicht erfahren, wie die Story weiter geht. Denn mit Verweis auf den Jugendschutz findet sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Niemand mag Cliffhanger, deswegen schauen wir in ein bereits öffentlich gewordenes Polizeieinsatzvideo und erzählen der Reihe nach.

Alles beginnt am 7. Juli 2017: Am frühen Morgen machen sich rund 200 Gipfel-Gegner*innen gemeinsam auf den Weg, um den G20-Gipfel in Hamburg zu blockieren. Als sie in einem Hamburger Gewerbegebiet in die Straße Rondenbarg abbiegen, werden sie von einer Beweis- und Festnahmeeinheit (BFE) vor ihnen und Wasserwerfern hinter ihnen in die Zange genommen. Es fliegen Gegenstände. Plötzlich greift die BFE-Einheit ohne Vorwarnung den Demonstrationszug an. »Ahu, ahu«, rufen sie sich zu. Es klingt, als wäre dies nicht ein Polizeieinsatz, sondern ein Haufen Hooligans auf dem Acker – kein fernliegender Vergleich, schließlich sieht sich der Demonstrationszug der berüchtigten brandenburgischen Beweis- und Festnahmeeinheit »Blumberg« gegenüber.

Die Aktivist*innen geraten in Panik und versuchen zu entkommen. Einige Sekunden später findet sich der Großteil von ihnen gefesselt und in Embryonalstellung auf dem Boden wieder – der Wasserwerfer gibt ihnen den Rest. Ein anderer Teil ist bei dem Versuch zu fliehen über ein Geländer geklettert, das sich unter ihrem Gewicht aus dem Beton löst und mitsamt der daran hängenden Aktivist*innen einige Meter in die Tiefe stürzt. Vierzehn Verletzte, davon elf Schwerverletzte – oder, wie ein Polizist, der hoch und trocken im Wasserwerfer sitzt, zu sagen pflegt: »Na die haben sie mal schön platt gemacht, alter Schwede.« Das denkt sich wohl auch der Einsatzleiter, der, wie aus dem Polizeivideo hervorgeht, per Funk den Befehl erteilt, alles, was auf der Straße zu finden sei, »Vermummung, Steine, alles was rumliegt« aufzusammeln, denn: »Das brauchen wir alles zur Rechtfertigung der Maßnahmen.«

Drei Jahre und fünf Monate später hat sich noch kein Polizist öffentlich gerechtfertigt. Stattdessen beginnt nun ein Mammutprozess gegen 85 Aktivist*innen, die am Morgen des 7. Juli 2017 im Rondenbarg dabei gewesen sein sollen. Die Besonderheit beim Rondenbarg-Verfahren ist, dass den Angeklagten keine individuelle Tat zur Last gelegt wird, sondern eine Art Kollektivschuld festgestellt werden soll. Ein Urteil in diesem Fall könnte Folgen für alle Demonstrationen haben, und die schiere Masse der Angeklagten machen den Rondenbarg-Prozess schon jetzt zu einem der bedeutsamsten Prozesse gegen Linke in den letzten Jahren.

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Das Video, das von dem Magazin Panorama veröffentlicht wurde, zeigt den Polizeieinsatz aus der Sicht des Wasserwerfers.

Lange Zeit konnte man den Eindruck gewinnen, dass kein Richter das Verfahren gerne anfassen wollte. Das könnte daran gelegen haben, dass es in Hamburg für sämtliche G20-Prozesse einen unbedingten politischen Willen zu harten Strafen gibt, wie sich nicht zuletzt im Elbchaussee-Verfahren zeigte. Dieses ging am 10. Juli 2020 zu Ende. Bei der Urteilsverkündung rügte die Richterin die Staatsanwaltschaft und warf ihr vor, »Fake News« verbreitet und politische Stimmungsmache betrieben zu haben. Auch das Verfahren gegen Fabio, der ebenfalls im Rondenbarg-Komplex angeklagt wurde, lief nicht besonders gut für Staatsanwaltschaft und Polizei. Die hatten sich in der aufgeheizten politischen Stimmung nach dem G20-Gipfel einen schnellen Erfolg erhofft, bissen sich letztlich aber an der politischen Prozessführung der Verteidigung, und der mentalen Stärke und Standhaftigkeit des Angeklagten die Zähne aus. Der 18-Jährige aus Italien hatte bereits fünf Monate U-Haft hinter sich, als die Anklage beim Prozess in sich zusammenfiel.

Die Staatsanwaltschaft war gegen ihn mit dem sogenannten Hooligan-Paragrafen zu Felde gezogen, der auch in den kommenden Prozessen im Rondenbarg-Komplex eine Rolle spielen könnte. Hierbei berief sich die Staatsanwaltschaft auf ein Urteil des BGH gegen eine Gruppe von Hooligans. Diese hatten an einem vorab verabredeten, öffentlich ausgetragenen, gewalttätigen Kampf zweier Fußballfangruppen teilgenommen. Obwohl ihnen keine individuell begangenen Gewalttätigkeiten zugeordnet werden konnten und sich einer sogar kurz vorher aus der Gruppe entfernt hatte, urteilte der BGH, allein die psychische Unterstützung der Teilnehmer sei strafbar im Sinne des § 125 StGB. Das »ostentative Mitmarschieren« sei Landfriedensbruch. Dabei hatte der BGH selbst ausgeschlossen, dass der Vorwurf des »ostentativen Mitmarschierens« auch für Demonstrationen angewendet werden könne. Die Erklärung des BGH im Hooligan-Urteil hatte gelautet: »Alle Teilnehmer der Menschenmenge verfolgten einzig das Ziel, geschlossen Gewalttätigkeiten zu begehen. Dadurch unterscheidet sich dieser Fall der Dritt-Ort-Auseinandersetzung gewalttätiger Fußballfans von Fällen des Demonstrationsstrafrechts, bei denen aus einer Ansammlung einer Vielzahl von Menschen heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, aber nicht alle Personen Gewalt anwenden oder dies unterstützen wollen.«

Im Verfahren gegen Fabio wurde überdeutlich, dass es sich um einen politischen Schauprozess handelte. Die Staatsanwaltschaft spekulierte darauf, dass sich Fabio allein durch seine Teilnahme der »psychischen Beihilfe« und damit des Landfriedensbruchs schuldig gemacht hätte. Die Behörden kamen vor Gericht nicht durch mit ihrer Geschichte. Unangenehm für die Verantwortlichen in Hamburg, denn in vielen Medien war zu lesen, dass die Staatsanwaltschaft ihre Konstrukte aus Märchen und Sand gebaut hatte.

Nun aber soll ein Pilotverfahren im Rondenbarg-Komplex beginnen. Als erstes nimmt man sich die fünf jüngsten Beschuldigten vor. Das ist praktisch. Denn unter Ausschluss der Öffentlichkeit kann die Geschichte aus der Sicht der Polizei ganz in Ruhe erzählt werden. Für die Jugendlichen aus Stuttgart, Mannheim, Bonn, Köln und Halle ist der Prozess an sich schon eine Bestrafung, schließlich müssen sie sich auf viele Prozesstage in Hamburg einstellen. Wie das mit Schule oder Ausbildung zusammen gehen soll, sagt das Gericht nicht. Darüber hinaus lastet auf den Jugendlichen der Druck, dass mit diesem Verfahren Maßstäbe gesetzt werden sollen. Zu befürchten steht, dass die Urteile gegen die Jugendlichen die Untergrenze des Strafmaßes markieren werden, das für die darauffolgenden Urteile zu erwarten ist. Und harte Urteile sind wichtig für die Hamburger Behörden, damit sie halbwegs gesichtswahrend aus der G20-Nummer herauskommen. Wie wir aber vom ehemaligen Hamburger Bürgermeister und Möchte-Gern-Kanzler Olaf Scholz wissen: »Polizeigewalt hat es nicht gegeben.« Und bis das stimmt, müssen noch einige Balken gebogen werden.

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.