analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 664 | International

Flucht in die Expansion

Mit einer Intervention in den Krieg um Bergkarabach wollen sich die türkischen Staatsislamisten vor dem Machtverlust retten – auf Kosten Armeniens

Von Tomasz Konicz

Verbündete: Der türkische Prsäsident Erdoğan mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Aliyev im Februar 2020 in Baku. Foto: Wikimedia, , CC BY .4.0

In Armenien hat die Türkei ein neues Angriffsziel gefunden. In diesem verschmelzen Feindbilder und ein kaltes geopolitisches Kalkül. Seit dem türkischen Genozid an den Armenier*innen während des Ersten Weltkrieges fungieren diese als ein zentrales Feindbild des türkischen Nationalismus wie Islamismus, deren Synthese das Erdogan-Regime bei seinem Streben nach der Wiederbelebung des Osmanischen Reiches betreibt. Mit der Expansion in den Kaukasus stößt die Türkei zudem in eine strategisch wichtige Region vor, die bislang unter der Hegemonie Russlands stand. Faktisch führt Ankara – begleitet von nationalistischer Hetze – einen verdeckten Krieg gegen den Staat der Überlebenden des türkischen Völkermords von 1915/16.

Denn Mitte Oktober waren die Beweise für den Einsatz dschihadistischer Söldner durch die Türkei in Aserbaidschan erdrückend. Unklar ist nur, ob hunderte oder tausende von Islamisten aus Syrien und Libyen von Recep Tayyip Erdogan an die Front in Bergkarabach geworfen worden sind. Berichte über umfassende Waffenlieferungen Ankaras an Aserbaidschan, den Einsatz moderner türkischer Kampfflugzeuge vom Typ F-16 gegen armenische Ziele und die Organisationen der effektiven Drohnennkampagne in Bergkarabach durch türkisches Militär scheinen aufgrund starker Indizien ebenfalls der Wahrheit zu entsprechen.

Dabei ist – neben der neo-ottomanischen Ideologie – die schwere türkische Wirtschaftskrise der wichtigste Faktor, der Erdogan zu immer neuen, blutigen Kriegsabenteuern in Nordsyrien, Nordirak und Libyen sowie zu Muskelspielchen in der Ägais, bei denen ein Krieg zwischen der Türkei und Griechenland droht, treibt. Mit der permanenten Propagierung nationalistischer und imperialer Rhetorik, mit der innenpolitischen Mobilisierung gegen äußere Feinde, die faktisch in einem andauernden Ausnahmezustand mündet, soll der soziale Krisenfallout, der inzwischen die Klientel der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) voll trifft, überspielt werden. Es soll der drohende Machtverlust der Staatsislamisten in Ankara verhindert werden. Es handelt sich folglich um eine Flucht in die äußere Expansion, die ein Beispiel dafür sein kann, wie unter dem Druck einer schweren Krise der Imperialismus in Faschismus abdriftet.

Tatsächlich bildet Erdogans Türkei nur den krassesten aktuellen Fall einer allgemeinen Krisentendenz. Die global zunehmende Gefahr eines Großkrieges resultiert gerade aus diesem krisenbedingten Konfrontationswillen vieler Groß- und Regionalmächte, die innere Verwerfungen in der Weltkrise des Kapitals durch äußere Expansion kompensieren wollen.

So sieht die multipolare Weltunordnung im Spätkapitalismus aus: Es ist eine Art permanente Vorkriegszeit.

Der krisenbedingte Zerfall der US-Hegemonie führt zudem dazu, dass die ohnehin zunehmenden geopolitischen Spannungen schneller in kriegerische Auseinandersetzungen münden, da viele Regionalmächte in das frei werdende Machtvakuum hineinstoßen. So sieht die multipolare Weltunordnung im Spätkapitalismus aus: Es ist eine Art permanente Vorkriegszeit. Nirgends wird dies deutlicher als im Kaukasus, wo Erdogan sein bisher größtes und risikoreiches Vabanque-Spiel entfachte. Mit der offenen Unterstützung Aserbaidschans bei seinem Angriffskrieg gegen Bergkarabach, den das Land ohne türkische Rückendeckung aufgrund der vergangenen Niederlagen nicht gewagt hätte, wird Russland direkt in seinem »Hinterhof« herausgefordert.

Der Kaukasus galt seit dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990er Jahren als eine Region, die aufgrund ihrer multiethnischen Zusammensetzung und strategischen Lage als Transitraum für die Energieträger des Kaspischen Raums ein potenzielles Pulverfass darstellt. Die Region bedroht insbesondere die Stabilität der Russischen Föderation. Der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach, in dessen Verlauf bis 1994 Zehntausende umkamen und rund 400.000 Armenier*innen und 700.000 Aserbaidschaner*innen vertrieben wurden, bildete nur einen der Folgekonflikte des Zerfalls der Sowjetunion. Hinzu kamen die kaukasischen Kriege um die abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien sowie der langwierige und äußerst brutal geführte Konflikt um Tschetschenien.

Pulverfass Kaukasus

Russland sieht aufgrund seiner starken muslimischen Minderheit und der Erfahrungen mit dem Dschihadismus im Tschetschenien-Krieg den Einsatz der islamistischen Söldner in Aserbaidschan als eine Bedrohung seiner Stabilität, die ohnehin durch Unruhen im Fernen Osten, einen Regierungssturz in Kirgisien und die Proteste in Belarus zunehmend gefährdet ist. Russland will vor allem den Status quo erhalten und seine guten und einträglichen Beziehungen zu Aserbaidschan (Waffenexport) nicht aufs Spiel setzen – trotz der Allianz mit Armenien, wo sich russische Stützpunkte befinden.

Deswegen startete Moskau eine Friedensinitiative, um beide Konfliktparteien zu einer Waffenruhe zu bewegen. Diese wurde aber von der Türkei verworfen und von Aserbaidschan umgehend gebrochen. Kurz nach Ausrufung des Waffenstillstandes am 10. Oktober wurden Offensiven im Süden von Bergkarabach gestartet. Die Türkei strebt danach, als aktiver Teilnehmer an den Verhandlungen über den Kriegsausgang zugelassen zu werden, was auf die faktische Aufhebung der russischen Hegemonie im Südkaukasus hinausliefe. Ankara schwebt im Rahmen seiner neo-osmanischen Fieberträume zudem der Aufbau von Militärstützpunkten in Aserbaidschan vor, wie auch eine zentrale Stellung der Türkei beim Transport fossiler Energieträger der Region. Der nationale Islamist Erdogan hofft überdies, durch einen Sieg im Krieg gegen die verhassten christlichen Armenier – was faktisch auf die ethnische Säuberung Bergkarabachs hinausliefe – seine angeschlagene Machtstellung in der Türkei zu stabilisieren. Putin wiederum kann den von Erdogan betriebenen Dschihadismusexport in die Region eigentlich nicht zulassen. Doch zugleich will er mit der Türkei nicht nur konkurrieren, sondern auch kooperieren – etwa bei Pipelineprojekten, dem Verkauf russischer Atomkraftwerke oder dem Waffenexport. Mensch könnte das Verhältnis zwischen Moskau und Ankara als konfrontative Kooperation bezeichnen. Russland ist es gelungen, Ankara ähnlich aus der westlichen Einflusssphäre zu lösen, wie es der EU und den USA im Fall der Ukraine gelang.

Als weitere geopolitische Machtfaktoren wirken in der Region der Iran und Israel. Die iranische Grenze stellt die einzige offene Landverbindung Armeniens zur Außenwelt dar, da die Türkei die Grenzen seit 1993 geschlossen hat und Georgien ebenfalls nach einem 2008 verlorenen Krieg um Südossetien sich in Opposition zum Kreml und folglich dessen Bündnispartner Armenien befindet. Das Regime in Teheran sieht in Armenien ein Gegengewicht zu Aserbaidschan, da im Norden des Iran eine starke aserbaidschanische Minderheit beheimatet ist, die als potenzieller Unruheherd gilt. Zudem verfügt Israel über gute Beziehungen zu Aserbaidschan, das ein fleißiger Kunde der israelischen Waffenindustrie ist. Auch die USA unter Donald Trump, der spätestens 2019 mit dem Verrat an den Kurd*innen Rojavas eine strategische Weichenstellung zugunsten Erdogans traf, unterstützen fleißig die aserbaidschanische Regierung in Baku, um über einen geopolitischen Hebel in der Region zu verfügen. In diesem Jahr fließt amerikanische Militärhilfe im Umfang von 100 Millionen US-Dollar nach Aserbaidschan, das – ähnlich der Türkei – nach Ausbruch des jüngsten Krisenschubs infolge der Corona-Pandemie mit schweren sozialen Verwerfungen zu kämpfen hat, die durch den Krieg überdeckt werden sollen.

Auch Berlin sponsort den Krieg

Neben Trump und Putin – die durch Zugeständnisse versuchen, den geschickt diese imperialistischen Widersprüche ausnutzenden Erdogan ins jeweils eigene geopolitische Lager zu lotsen – hat der türkische Kriegszug in der Region noch einen weiteren Sponsor: Angela Merkel. Berlin blockiert alle europäischen Bemühungen, das Regime in Ankara mittels Sanktionen unter Druck zu setzen. Deutschland verfügt gerade aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung mit der Türkei über die Mittel, das islamisch-nationalistische Regime wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Es geht bei diesem Flankenschutz Berlins nicht so sehr um die Angst vor der Instrumentalisierung von Gefüchteten durch Erdogan als um die wahren Werte, die Grundlage kapitalistischer Politik sind: etwa die milliardenschweren Investitionen und die üppigen Exporte, wie auch um die strategische Partnerschaft zwischen Berlin und Ankara, die wiederum Erinnerungen an die Hochzeit des Imperialismus mit ihrer Bagdad-Bahn wachruft.

Armenien droht zerrieben zu werden

Die krisenbedingte Barbarisierung des Spätkapitalismus wird gerade an der Selbstverständlichkeit deutlich, mit der inzwischen imperialistische Kriege, Grenzverschiebungen und ethnische Säuberungen hingenommen werden. Armenien droht in diesem blutigen imperialistischen Great Game zerrieben zu werden. Langfristig kann das verarmte Land mit seinen drei Millionen Einwohner*innen dem militärischen Druck der zweitgrößten Nato-Armee nicht standhalten – während die USA Aserbaidschan mit Geld überschütten, Merkel jegliche Sanktionen gegen Ankara blockiert und Putin nach Wegen sucht, die treuen Atomkraftwerks- und Waffenkäufer in Aserbaidschan und Ankara trotz ihrer Kriegsfeldzüge in seinem Hinterhof bei der Stange zu halten.

Armeniens Premier Nikol Pashinyan hielt Mitte Oktober eine Ansprache an die Nation, in der er die großen Verluste der Armee beklagte und ungeschminkt die schwierige Lage darstellte, in der sich das Land nach knappen drei Wochen Krieg befand. Hierbei zog Pashinyan Parallelen zwischen der derzeitigen geopolitischen Konfiguration zu dem Münchener Abkommen von 1938, als die Nazis durch territoriale Zugeständnisse auf Kosten der Tschechoslowakei zufriedengestellt werden sollten. Angesichts der jüngsten türkischen Provokationen im östlichen Mittelmeer, wo türkische »Erkundungsschiffe« abermals Mitte Oktober in griechische und zypriotische Gewässer aufbrachen, scheint diese historische Parallele nicht mehr vollends von der Hand zu weisen zu sein.

Tomasz Konicz

ist Autor und Journalist. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört«. Mehr Texte und Spendenmöglichkeiten (Patreon) auf konicz.info.