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»Aufbruch«, »Zukunft«, »Fortschritt«: Die Floskel-Koalition nimmt Gestalt an

Von Sebastian Friedrich

Ob die Ampel nun auf Geld, Rot oder Grün steht, ist bei diesen Koalitionsverhanldungen wahrscheinlich egal. Foto: Kevan /Flickr, CC BY 2.0

Eine gemeinsame Erzählung wollten sie finden in den Sondierungen. Diese haben die Spitzen aus SPD, Grünen und FDP am 15. Oktober der Öffentlichkeit vorgestellt, als sie verkündeten, in Koalitionsverhandlungen treten zu wollen. »Modernisierung«, »Aufbruch«, »Zukunft« zählten zu den am häufigsten verwendeten Wörtern. Vor allem Annalena Baerbock griff tief in die Phrasenkiste und rief das »Jahrzehnt der Erneuerung« aus und sprach von einer »Fortschrittskoalition« – neben dem »progressiven Bündnis« eine Lieblingsformulierung der Grünen in letzter Zeit.

Wie nichtssagend das Progressive sein kann, zeigt eine Studie der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, die Anfang des Jahres erschienen ist. Progressiv unterscheide sich von konservativ in der Haltung: »Progressive betrachten das Glas als halb voll, sie sehen die Chancen, den Wandel zu nutzen, um Verbesserungen für viele zu erreichen. (…) Für Konservative hingegen ist das Glas bereits halb leer, sie fürchten den Verlust und verwenden ihre Energie darauf, das Erreichte zu sichern.« Ein halb volles Glas, um von der inhaltlichen Leere abzulenken.

Auch bei der real existierenden Sozialdemokratie gibt man sich gerne »progressiv«: Auf Betreiben Sigmar Gabriels spalteten sich 2013 vor allem europäische sozialdemokratische Parteien von der Sozialistischen Internationale ab und gründeten die Progressive Allianz. Und die eher dem »pragmatischen« aka rechten Flügel der SPD nahe stehende Denkfabrik Progressives Zentrum setzt seit Gründung vor 15 Jahren ebenfalls auf den Begriff. Progressiv als geeignetes Mittel für die Sozialdemokratie, die letzten sozialistischen Ideen abzuschütteln. Und auch der neoliberale Nihilismus der FDP wird mit der Beschreibung als Fortschrittskoalition leben können, kostet sie ja nichts.

Der linke Flügel der SPD wird die progressive Koalition kaum von links prägen, wohl eher vor links verteidigen.

Vielleicht werden auf gesellschaftspolitischer Ebene ein paar Anpassungen an die diverse Realität großer Teile der Bevölkerung vorgenommen, vielleicht wird der Mindestlohn erst einmal steigen, vielleicht wird mehr von Respekt, Wertschätzung und Lösungen die Rede sein, vielleicht ist Kiffen bald legal. Sicher ist: Von der Fortschrittskoalition ist kein Ende der Austeritätspolitik zu erwarten – und es wird auch keine Steuererhöhungen für Reiche geben.

Zumindest Hartz IV soll abgeschafft und durch eine »Bürgerversicherung« ersetzt werden. Klingt neu, aber es ist schwer vorstellbar, dass sich dadurch am Grundprinzip »Fördern und Fordern« etwas ändern wird. 

Manche hoffen, dass sich linke Kräfte bei SPD und Grünen von den Phrasen nicht einlullen lassen. Die »linken« Jusos stellen in der neuen SPD-Bundestagsfraktion immerhin 49 Mitglieder und damit mehr als die Fraktion der Linkspartei. Mit dabei ist Kevin Kühnert, der allerdings binnen Rekordzeit vom linken Hoffnungs- zum Wasserträger des SPD-Rechten Olaf Scholz wurde. Noch vor zwei Jahren liebäugelte er mit der Verstaatlichung von BMW – kurz vor der Wahl sprach er sich gegen die Vergesellschaftung von Deutsche Wohnen und Co in Berlin aus. Der linke Flügel der SPD wird die progressive Koalition kaum von links prägen, wohl eher vor links verteidigen.

Wenigstens hat die Grüne Jugend neuerdings mit Sarah-Lee Heinrich eine Frau an der Spitze, die glaubhaft die soziale Frage links beantwortet. Sie hat kürzlich bei Jacobin vor der Ampel gewarnt: Bei diesem »progressiven Bündnis« könnte sich die Politik des progressiven Neoliberalismus verfestigen: »Wenn die Führungsetagen von Unternehmen diverser besetzt werden, die Büros am Abend aber trotzdem migrantische Frauen für beschissene Löhne sauber machen müssen, gilt der ›progressive‹ Anspruch als erfüllt.« Unwahrscheinlich, dass solche Worte an der Spitze Gehör finden werden, verstehen es die Grünen seit Jahrzehnten gut, sich aus Tradition ein paar Linke in der Partei zu halten, die eine ähnliche Funktion einnehmen wie der spleenige Onkel, mit dem man gerne mal am Tisch Witze macht, ihn aber auch schnell wieder aus der Wohnung haben will. 

Der Schein der Veränderung sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Mit der kommenden Floskel-Koalition droht im Kern die Fortführung der Schröder-Merkel-Ära mit neuen Gesichtern – und Olaf Scholz.

Sebastian Friedrich

ist Journalist und Autor aus Hamburg. 2019 erschien beim Berliner Bertz und Fischer Verlag sein Buch »Die AfD. Analysen, Hintergründe, Kontroversen« in dritter und überarbeiteter Auflage.