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Auf Tauben schießt man nicht

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Doğan Akhanlı über die Aufarbeitung des armenischen Genozids

Interview: Ceren Türkmen

Schwarzweißaufnahme eines lächelnden älteren Mannes mit Brille
Doğan Akhanlı wurde in Şavşat im Nordosten der Türkei geboren. Der Autor von sieben Romanen lebt heute in Köln. Foto: privat

Am Donnerstag, den 2. Juni 2016, stimmte die große Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag der Armenien-Resolution zu. Die Resolution verurteilt den Genozid an bis zu eineinhalb Millionen Armenier_innen im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1917. Doğan Akhanlı thematisierte Anfang der 1990er Jahre als erster türkischer Schriftsteller öffentlich den Völkermord an den Armenier_innen. Seitdem setzt er sich politisch und publizistisch für die Anerkennung des Genozids ein. Seine Kritik an der Verleugnung der Massenvernichtung führte 2010 zu einer fünfmonatigen Inhaftierung in der Türkei. Ceren Türkmen sprach mit ihm in Berlin über die Hintergründe der Resolution.

Die Einschätzungen und Reaktionen zur Resolution sind sehr unterschiedlich. Was denken die Armenier in der Türkei und in der Diaspora darüber?

Doğan Akhanlı: Die große Mehrheit der Armenier spricht sich für die Resolution aus. Es war notwendig, in Deutschland eine Resolution zum Genozid zu erkämpfen, weil dieser Genozid noch immer vehement verleugnet wird und für den gewissermaßen postmodernen Nationalismus in der Türkei nach wie vor ein zentrales Politikum ist. Das Land, das einen totalen Völkermord im 20. Jahrhundert verursacht hat, der zur Begriffsschöpfung Genozid führte, verleugnet diesen Genozid bis heute vehement. Es ist die Ironie der Geschichte und gleichzeitig beschämend und entsetzlich. Die Armenier bezeichnen mit dem Begriff »Aghet« den Genozid als kollektive Erfahrung, was übersetzt Katastrophe bedeutet. Aufgrund der fortgesetzten Repression in der Türkei gegen Befürworter einer Anerkennung konnte »Aghet« erst in der armenischen Diaspora im Rahmen einer transnationalen Erinnerungsarbeit und Genozidforschung aufgearbeitet werden. Deutschland war während der Verfolgung wichtigster Militärverbündeter des Osmanischen Reichs. Vor Deutschland haben aber schon weitere 25 Staaten den Genozid offiziell anerkannt. In Frankreich ist die Leugnung strafbar.

Es ist eine Bürgerpflicht, sich in der Türkei mit der Geschichte auseinanderzusetzen, zivilen Ungehorsam und Widerstand zu leisten.

Es scheint fast, als würde Deutschland trotz des EU-Türkei-Deals zu einem wichtigen Ort für Kritik am politischen Regime in der Türkei werden. Warum ist es wichtig, diese Resolution in Deutschland zu verabschieden?

Es ist eine Bürgerpflicht, sich in der Türkei mit der Geschichte auseinanderzusetzen, zivilen Ungehorsam und Widerstand zu leisten – für die Würde der Opfer, für Gerechtigkeit und gegen künftiges Blutvergießen. Gleichzeitig ist es auch eine transnationale Aufgabe, die Türkei zur Auseinandersetzung mit ihrer historischen Schuld zu drängen. Denn Genozide sind Verbrechen an der Menschheit wie an der Menschlichkeit. Es hätte von Unmenschlichkeit gezeugt, wenn der Bundestag seine frühere revisionistische Haltung weiter eingenommen hätte.

Wie verhält sich die Linke in der Türkei dazu?

Die türkische Gesellschaft, die Regierung selbst wie auch ein Teil der türkischen Linken argumentieren mit einer traditionellen antiimperialistischen These und behaupten, dass der Bundestag den Genozid an den Armeniern aufgrund seines imperialistischen Interesses anerkannt hat. Das Argument ist zu einfach und einseitig, obwohl es sicherlich eine weitere Bedeutung der Resolution gibt, die mit zwischenstaatlichen Machtverhältnissen zu tun hat.

Wie deuten türkische Nationalisten die Resolution?

Die türkischsprachige nationalistische Community hat die Resolution als Angriff auf die türkischen Minderheiten hier interpretiert und ihr eine weitere Interpretation und Bedeutungsebene hinzugefügt. Sie argumentierten, dass die Anerkennung des Genozids an den Armeniern sinngemäß den »inneren Frieden« gefährde, weil sie die Intervention von Deutschland als paternalistischen Eingriff in »innere Angelegenheiten« deutet. Hier vermengen sich also verschiedene politische Debatten, Konflikte und Kämpfe.

Doğan Akhanlı

wurde 1957 geboren. Nach dem Militärputsch 1980 tauchte er unter; zwischen 1985 und 1987 war er als politischer Gefangener im Istanbuler Militärgefängnis inhaftiert. Akhanlı floh 1991 nach Deutschland, seit 1992 lebt er in Köln. 1999 erschien sein Roman »Die Richter des Jüngsten Gerichts«, der den Genozid behandelt. In »Die Tage ohne Vater« (2016) erzählt der Autor von der Beziehung eines jungen Exilanten zu seinem Vater während der 1970er Jahre.

Warum wird die Resolution gerade jetzt verabschiedet?

In Deutschland gibt es seit mehreren Jahren einen Kampf für die Anerkennung des Genozids. Die Bundesregierung wusste, dass deutsche Offiziere als Militärberater an wichtigen Entscheidungen bei der Deportation der Armenier beteiligt waren, und dass die deutschen Diplomaten immer wieder Berichte nach Berlin gesendet und das Ausmaß der Massaker geschildert haben. Der Bundesregierung war klar, dass alle vorhandenen Belege aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes über die deutsche Ignoranz und Beteiligung an der Vernichtung der Armenier bekannt sind. Trotzdem konnte die deutsche Regierungspolitik jahrelang erfolgreich die Anerkennung verhindern. 2016 war die Haltung der türkischen Regierung außerordentlich repressiv und hat in diplomatischer, politischer und moralischer Hinsicht alle Grenzen überschritten. Entscheidend waren ein paar Bundestagsabgeordnete, unter anderem Cem Özdemir, Dietmar Nietan und Ulla Jelpke, die sich jahrelang für die Anerkennung eingesetzt haben.

Die Anzahl der Bücher, die sich mit dem Genozid beschäftigen, hat scheinbar zugenommen. Welche Rolle spielt die literarische Auseinandersetzung mit dem Genozid und dem armenischen Leben gegenwärtig in der Türkei?

Zahlreiche Intellektuelle und Journalisten, die Bücher über das Thema geschrieben haben, wurden verfolgt und hart bestraft. Der Roman »Meine Großmutter« von Fethiye Çetin erschien 2004 und erzählt die Geschichte ihrer armenischen Großmutter. Das Buch wurde ein Bestseller und ermutigte weitere ähnliche Publikationen. Diese setzen am Alltagsbewusstsein der Menschen an und haben viel verändert. Die Debatte in der türkischen Bevölkerung über die Vergangenheit der Nation und die Herkunft ihrer Staatsbürger bekam entscheidende Risse. Immer mehr Menschen sagten sich: »Wir alle könnten armenische Großmütter haben.« Großmütter, die ermordet, assimiliert oder zum Schweigen über ihre Vergangenheit und den erlebten Genozid gebracht wurden.

Am 19. Januar 2007 wurde in Istanbul auf den armenischen Journalisten Hrant Dink geschossen. Was hat sich nach dem Mord an Dink in der Türkei bewegt? Gibt es eine Anerkennung der Geschichte und Gegenwart rassistischer Morde?

»Auf Tauben schießt man nicht!« hatte Hrant Dink in seiner letzten Kolumne geschrieben. Nach seiner Ermordung protestierten Hunderttausende Menschen bei spontanen Kundgebungen in Istanbul und Ankara. Hunderttausende trugen Plakate mit der Aufschrift »Wir sind alle Hrant. Wir sind alle Armenier!« und begleiteten in einem acht Kilometer langen Trauerzug den Sarg. Seitdem können der türkische Staat und die Nationalisten die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern nicht mehr verhindern. Als 2012 die sogenannte Gezi-Park-Bewegung begann, habe ich die Proteste in Istanbul von Deutschland aus begeistert verfolgt. Ich konnte ja nicht mehr einreisen. Die neue Generation weiß viel mehr als wir damals wissen durften. Zum Beispiel, dass die Jungtürken während des Ersten Weltkriegs Armenier vernichtet und später Griechen vertrieben haben. Sie hören, dass 1938 in Dersim Abertausende Aleviten und Kurden massakriert wurden. Sie hören, dass nach dem Militärputsch 1980 eine halbe Million Menschen festgenommen, viele gefoltert wurden und Tausende von ihnen verschwunden sind. Ein weiterer großer Teil der Verfolgten ist dann nach Europa migriert. Als politische Flüchtlinge haben sie hier ihre Kämpfe fortgesetzt. Die Festgenommenen, Gefolterten, die Verschwundenen und Hingerichteten sind ihre Eltern, Tanten, Onkel und ihre Großeltern. Darüber verbreiteten die staatlichen Institutionen lange Jahrzehnte nur Lügen. Im Land herrschte Stille, ein Schweigen, aus dem die heutige Generation ausbricht. Auf dem grünen Gezi Park befand sich früher ein armenischer Friedhof. Nach den Istanbuler Prozessen 1919 gegen die jungtürkischen Massenmörder wurde dort ein Mahnmal für die armenischen Opfer errichtet. An diesem Ort sind historische Gewaltgeschichten und aktuelle staatliche Gewalt verschmolzen. Deshalb war es treffend, dass die Demonstranten von Gezi eine Straße, die durch den Park führte, in Hrant-Dink-Straße umbenannt haben.

Präsident Erdoğan hat in sehr verstörender Weise auf die Resolution reagiert. Am 5. Juni riet er den elf türkeistämmigen Parlamentariern, die der Resolution zugestimmt hatten, ihr Blut einem Labortest zu unterziehen; ihr Blut sei »verdorben« und sie selbst der verlängerte Arm der PKK. Insbesondere Cem Özdemir hob er hervor. Die Bundestagsabgeordneten stehen mittlerweile unter Polizeischutz, weil Nationalisten ihnen mit Mord drohen. Welche Rolle spielt aus deiner Sicht der Staatsrassismus im Regime Erdogans?

Erdoğan hat alle Bezüge zur Realität verloren. Nachdem er seinen Palast gebaut hat und dorthin umgezogen ist, träumt er davon, ein neues Osmanisches Reich aufzubauen: einen imperialen Staat, der in drei Kontinenten Macht ausübt. In seinem neoosmanisch-islamisch-nationalistischen Projekt ist er auf die Unterstützung der Ultranationalisten angewiesen. Seine Hetze gegen Özdemir hat den Zweck, dieses Projekt weiter auszubauen. Seine Ehe mit den Nationalisten ist eine arrangierte Ehe, keine Liebesbeziehung: Er braucht sie. Das hat ihn vermutlich auch dazu bewogen, diesen Diskurs zu bedienen. Dabei hat er lange vorgetäuscht, vom Nationalismus Abstand genommen zu haben und ein panislamisches Projekt vertreten – mit der Türkei als Hegemon in der krisenzerrütteten Region. Mit solchen Diktatoren sollte man keine Kompromisse eingehen. Das ist auch das Versagen im neuen EU-Türkei-Deal.