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|ak 608 | Geschichte

Die Tradition der Unterdrückten

Zum 75. Todestag von Walter Benjamin (1892-1940)

Schwarzweißaufnahme eines Mannes mit Schnauzer und runder Brille, der ernst in die Kamera blickt
Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin-Charlottenburg, gestorben am 26. September 1940 in Portbou. Das Bild zeigt Benjamin im Jahr 1928. Foto: gemeinfrei

Durch die Pyrenäen im Norden, vom Mittelmeer im Süden begrenzt, liegt als Nadelöhr der spanisch-französische Grenzort Portbou. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten zogen Unbekannte und Berühmte durch diese Stadt, unter ihnen Hannah Arendt, Heinrich Blücher oder Heinrich Mann. Anders als sie wurde Walter Benjamin aufgrund einer neu erlassenen und schon bald wieder außer Kraft gesetzten Bestimmung an der Grenze abgewiesen. In der Nacht zum 27. September 1940 nahm er sich in Portbou das Leben.

Benjamins Leben und Denken fand bis zuletzt im Spannungsfeld von drei wesentlichen intellektuellen und freundschaftlichen Bezugspunkten statt. Der älteste dieser Bezüge war die Freundschaft zu Gerhard (Gershom) Scholem. Sie ging zurück ins Jahr 1915 und verband die beiden jüdischen Berliner nicht nur in ihrem Interesse an Metaphysik, sondern vor allem in ihrer Ablehnung von Krieg und Nationalismus. Allerdings konnte Scholem seine emphatische Hinwendung zum Zionismus seinem Freund so wenig nahebringen, wie dieser umgekehrt ihm die »Einsicht in die Aktualität eines radikalen Kommunismus«. Dazu gelangte Benjamin 1924, nachdem er die lettische Kommunistin Asja Lacis kennengelernt hatte.

Und doch blieb die Freundschaft stets auch intellektuell wechselseitig produktiv. Benjamin war in der jüdischen Theologie vor allem fasziniert von der nicht-linearen Vorstellung von Zeit, von der Idee der messianischen, aber diesseitigen Erlösung und von der davon gespeisten Hoffnung. Die Frage nach dem Judentum blieb für Benjamin immer die Frage nach den Kräften, die Scholem in ihm berührte, wie er einmal schrieb. Für Scholem wiederum war Benjamin stets das »metaphysische Ingenium«, das seiner Vorstellung als Theologe wohl am nächsten kam.

In dieses Bild passte Benjamins Freundschaft zu Brecht und seine Orientierung am historischen Materialismus nicht. Noch lange nach Benjamins Tod hielt Scholem an seinem Urteil fest, der »Einfluss Brechts auf die Produktion Benjamins« sei »unheilvoll, in manchem auch … katastrophal«. Ein Urteil, dem sich auch Theodor Adorno anschloss. Während es das unbestreitbare Verdienst von Scholem und Adorno bleibt, Benjamins Arbeiten nach dessen Tod überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben, behält es einen bitteren Nachgeschmack, dass etwa in der Werkausgabe von 1955 Brecht lediglich einmal am Rande erwähnt wird.

Die Frage der Rettung war für Benjamin immer aktuell – trotz der Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg, trotz des Vormarsches des Faschismus.

Zu wenig dialektisch in ihrem Sinne, zu parteiisch und vermutlich zu politisch war Brechts Einfluss in den Augen von Adorno und Horkheimer. Für Benjamin wiederum waren Methode, Werk und Haltung Brechts ein wertvoller Bezugspunkt in seiner Arbeit. Auf Vermittlung von Lacis lernten die beiden sich 1924 in Berlin kennen. Ihre einige Jahre später gefasste Absicht, in einem gemeinsamen Lesekreis »den Heidegger zu zertrümmern«, blieb leider so folgenlos wie der Plan, gemeinsam einen Kriminalroman zu schreiben.

Dennoch entfaltete ihre Beziehung insbesondere während des Exils großes kreatives Potenzial. Benjamins Anweisung an den Historischen Materialismus, sämtliche Kulturgüter als Zeugnisse von Ausbeutung zu lesen, trägt die Spuren von Brechts »Fragen eines lesenden Arbeiters«, und Benjamins Mahnung, die Geschichte müsse in Solidarität mit den Unterdrückten geschrieben werden, kann sich bruchlos an Brechts »Verurteilung des Lukullus« anschließen. Beide Arbeiten Brechts wurden übrigens ebenso wie die Ode »An die Nachgeborenen« zwischen 1934 und 1940 im dänischen Svendborg verfasst, wo ihn Benjamin einige Male besuchte. Sie können insbesondere in ihrem Geschichtsdenken auch auf den Einfluss Benjamins zurückgeführt werden.

Ein Schiffbruchiger, der auf einem Wrack treibt

Den dritten Bezugspunkt bildete das exilierte Institut für Sozialforschung (IfS) unter der Leitung von Max Horkheimer. Neben diesem waren es Theodor, aber vor allem Gretel Adorno, zu denen Benjamin eine dauerhafte Beziehung unterhielt. Anders als in den Beziehungen zu Brecht und Scholem bestand hier ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis, das einen starken Einfluss auf Benjamins Texte, die unter dem Dach des IfS erschienen, ausübte. So konnte 1936 die französische Version des berühmten Kunstwerk-Aufsatzes (1) nur mit starken inhaltlichen Abstrichen erscheinen; beispielsweise wurde »Faschismus« durch »Totalitarismus« ersetzt. Gleichzeitig zollte Adorno Benjamin häufig große Anerkennung, u.a. für dessen Arbeiten über den französischen Schriftsteller Charles Baudelaire (1821-1867), die – ob zufällig oder nicht – zu jenen Arbeiten Benjamins zählten, für die Brecht am wenigsten übrig hatte.

Auch nach Benjamins Tod bezog sich Adorno immer wieder explizit und implizit auf zentrale Gedanken Benjamins, so auch in seinem letzten Text. In der Ästhetischen Theorie schrieb Adorno, dass erst »einer befreiten, zumal aller Nationalismen ledigen Menschheit … mit der Vergangenheit auch die Kulturlandschaft unschuldig zuteil« werden würde. Bei aller Ähnlichkeit zu Motiven Benjamins bestand jedoch ein wesentlicher Unterschied in der Bedeutung politischer Praxis. Von Adorno und Horkheimer ist das bekannte Bild der Flaschenpost überliefert, als die sie die »Dialektik der Aufklärung« verstanden haben. Diese zwischen 1939 und 1944 verfasste Schrift hatte demgemäß keinen gegenwärtigen, sondern lediglich einen hypothetischen, zukünftigen Adressaten.

Ganz anders Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940, auf die ein Bild zutrifft, das Benjamin in einem Brief an Scholem verwandte, um diesem seinen Zugang zum Marxismus zu erklären: »Ein Schiffbruchiger, der auf einem Wrack treibt, gefahrdet sich noch mehr, indem er auf die Spitze des Mastbaums klettert, der schon zermurbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner Rettung ein Signal zu geben.« Die Frage der Rettung war für Benjamin immer aktuell – trotz der Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg, trotz des Paktes zwischen Ribbentrop und Molotov, trotz des Vormarsches des Faschismus schrieb er die Thesen in der Hoffnung, dass »unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern« würde.

Mit Benjamin gegen die Repräsentation von Macht

Diese Thesen bilden gemeinsam mit der unvollendeten Passagen-Arbeit (2), seinen Aufzeichnungen zu Baudelaire und anderen Texten das Gerüst einer Theorie des Eingedenkens als materialistische Geschichtsschreibung. Diese weist nach, dass die hegemoniale Vorstellung von Zeit und Geschichte eine spezifische Vorstellung der Herrschaft ist. Geschichte erscheint als linearer, homogener und zielgerichteter Prozess, der sich in den Taten großer, weißer Männer vollzieht. Vergangenheit erscheint so immer schon auf den jetzigen Zustand projektiert. Dagegen bringt Eingedenken jene Momente im Vergangenen in Stellung, die die Erzählung der Herrschaft in Frage stellen, als Widersprüche über sie hinausweisen oder auf bislang nicht eingelöste Ansprüche verweisen. Diese Ansprüche sind jene der »geknechteten Vorfahren«. Statt sich an dem »Ideal der befreiten Enkel« zu orientieren, betonte Benjamin, dass der Klassenkampf vor allem »im Namen von Generationen Geschlagener« geführt werden müsse.

Was also Vermächtnis, Erbe, Lehre aus der Vergangenheit ist, wird in der Gegenwart entschieden und ist Ausdruck von Kräfteverhältnissen, Ergebnis von Kämpfen. Sicher, die Feinde, die Benjamin gegenüberstanden, sind nicht dieselben, gegen die sich heute eine Geschichtspolitik des Eingedenkens richtet. Aber Benjamin hatte recht, wenn er schrieb, sie seien »die Erben aller, die je gesiegt haben«, und führten Kulturgüter als Beute im Triumphzug mit.

Dies hat sich auch 75 Jahre nach Benjamins Tod nicht geändert. Im Zentrum von Benjamins Geburtsstadt Berlin entsteht mit dem Humboldt-Forum eine Rekonstruktion des barocken Stadtschlosses. Nicht nur markiert dieser Bau an jener Stelle, an der nichts mehr an den abgerissenen Palast der Republik erinnern soll, den Triumph über das sozialistische Gesellschaftsmodell und die behauptete Endgültigkeit der Marktwirtschaft. Er stellt dadurch auch eine historische Kontinuität des Fortschritts her.

Welcher Natur diese Kontinuität ist, darüber geben die Sammlungen der Kunstschätze Auskunft. Sie sollen die »Erforschung außereuropäischer Kulturen« dokumentieren. Zu Recht weist die Initiative No Humboldt 21 darauf hin, dass diese »Erforschung« Teil kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung war, dass ein Großteil der Exponate im Zuge kolonialer Unterwerfung geraubt wurde und dass die geplante Zurschaustellung im Schloss der Hohenzollern auch eine auf die Gegenwart bezogene »Repräsentation von Macht und globaler Bedeutung« ist.

Diese Repräsentation und die Proteste, die sie hervorruft, zeigen, wie aktuell Benjamins Hinweise für eine materialistische Geschichtsschreibung sind. Sie entlarvt die Erzählung von Kultur und Fortschritt als Geschichte von Unterdrückung. Sie greift die Vorstellung einer Kontinuität des Fortschritts an und stellt ihr eine diskontinuierliche »Tradition der Unterdrückten« entgegen. Diese Tradition ist mehr als die Klage über vergangenes Unrecht, weil sie den Protest gegen das gegenwärtige Unrecht mit einschließt. Sie ist jene »schwache messianische Kraft« der Gegenwart, von der Benjamin schrieb, dass die Vergangenheit einen Anspruch an sie habe.

Sebastian Wehrhahn

studierte Philosophie und ist Referent der Linksfraktion im Bundestag für Rechtsextremismus und Antifaschismus.

Anmerkungen:

1) Den Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« schrieb Benjamin 1935 in Paris.

2) An seinem Passagen-Werk arbeitete Benjamin seit 1927. Siehe auch Fritz Fiehlers ausführlichen Artikel in ak 568.