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|ak 715 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Der Wal hat den Magen voll

Von Frédéric Valin

Wenn man ins Hedwig geht, ist es, als würde man von einem Wal geschluckt. Das Hedwig-Krankenhaus steht mitten in Berlin-Mitte, drumherum die Galerien und überteuerten Cafés und zwischendurch Leute, die Klärchens Ballhaus suchen, und andere, die sozialpsychiatrische Notfälle sind. Mir ist eigentlich erst sehr spät aufgefallen, wie verlogen Berlin in der Hinsicht ist: Hier kommen die Leute ja her, um das volle Leben auszukosten, um einen Tropfen vom Leid der anderen mit anzutesten: um in der Eckkneipe auch mal mit jemandem zu reden, der schonmal gesessen hat. Aber das ist nicht das wahre Leben, das ist bloß Voyeurismus: Du musst dich halt schon auch verantwortlich fühlen für die Leute, die abstürzen, und nicht nur ihnen dabei zusehen wollen, als würdest du die Fallgesetze studieren. Jetzt werde ich wieder moralisch, dabei wollte ich das gar nicht.

Wer mich nach dem Grad der aktuellen Unterversorgung fragt, dem oder der erzähle ich gern von Hamid. Hamid hatte über 20 Jahre einen eigentlich ganz guten Weg gefunden, mit seinen Ängsten umzugehen: Einmal die Woche fuhr er ins Hedwig, ließ sich da Diazepam spritzen, schlief dann 24 Stunden und kam zurecht. Irgendwann fand die Notaufnahmestelle des Hedwig: Wir müssen sparen, und Diazepam spritzen ist für uns keine Therapie. Also haben sie einfach aufgehört, Hamid was zu geben.

Sie haben das auch nicht mit uns Betreuer*innen abgesprochen. Sie haben uns darüber nicht einmal informiert. Das Ding an diesen Notaufnahmestellen ist, da sitzen Leute mit mehr Berufs- als Lebenserfahrung. Ärzt*innen mit Mitte 20, Anfang 30, und die meisten sind auch wirklich okay: Die reden mit dir und schätzen ihre Rolle auch gut ein. Aber es gibt halt immer wieder welche, die wollen noch mehr werden, die sind genervt von den Leuten, die wollen unbedingt und um jeden Preis Dinge verändern. Und weil in so einer Ambulanz die Belegschaft von Ärzt*innen alle sechs Monate wechselt, kriegt man die halt auch ab.

In dem Fall: kriegt Hamid die halt auch ab. Es ist wahr, dass Diazepam wahnsinnig schnell abhängig macht, aber Hamid war nie abhängig von dem Zeug. Ich weiß das, weil sie Hamid von heute auf morgen auf einen kalten Entzug gesetzt haben und er keine körperlichen Symptome zeigte. Aber er brauchte das Soziale daran. Sich die Spritze abzuholen, war für ihn wie für manch andere, in die Kneipe gehen. In erster Linie geht es nicht darum, sich wegzuballern, sondern einen Ort zu haben, wo man aufgehoben ist. Jetzt waren da neue Leute, die wollten eigentlich, dass er gar nicht mehr kommt.

Aber Hamid hat eine Lösung gefunden, wie er weiterhin eine Rolle spielen kann in dieser Notaufnahme, und diese Lösung war so konsequent wie radikal: Er hat sich einfach auf die Stadtautobahn gelegt. Dann kam immer erst die Polizei und dann ein Rettungswagen, um ihn in diesen riesigen Wal reinzufahren, der das Hedwig ist.

Das hat natürlich wahnsinnig viel Geld gekostet und viele Nerven auch; naja, hätte der Wal ihm mal zugehört. Gemacht haben sie das alles, weil sie sparen müssen: Sie wollten Patient*innen loswerden. Der Wal hat den Magen voll. Aber so läuft das nicht, außer man bringt sie um, die Leute wie Hamid; und ich halte das nicht für ausgeschlossen, dass das für viele naheliegender ist, als die Unterversorgung zu beheben. Und das ist der eigentliche Wahnsinn.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.