analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 671 | Alltag

»2024 sind wir alle schon tot«

Das Super-League-Fiasko ist ein Hinweis darauf, dass die Spekulationsblase Fußball bald platzen könnte

Von Gabriel Kuhn

Der Titelgeber dieses Textes: Real Madrids Präsident Florentino Pérez (li.). Ihm kommt die Reform der Champions League eindeutig zu spät. Foto: Instituto Cervantes de Tokio/ Flickr, CC BY-SA 2.0

Es war eine der bizarrsten Episoden der jüngeren Sportgeschichte. Zunächst der Paukenschlag: Zu Mitternacht des 19. April verkündeten zwölf Großklubs des europäischen Fußballs (sechs aus England, jeweils drei aus Italien und Spanien) die Gründung einer »Super League«. Diese sollte »so bald wie möglich« mit dem Spielbetrieb beginnen. Die teilnehmenden Klubs wollten weder aus den nationalen Ligen noch aus den vom europäischen Fußballverband UEFA organisierten Wettbewerben Champions League und Europa League aussteigen. Gleichzeitig war klar, dass diese Wettbewerbe durch die Super League entwertet würden.

Die Empörung war groß. Fans warfen Trikots der Super-League-Vereine in den Müll, Spieler und Trainer zeigten sich überrumpelt, UEFA-Präsident Aleksander Čeferin sprach von einem »schändlichen Projekt« und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron stellte klar, dass diese Liga mit den »Prinzipien der Solidarität und des Sportsgeistes« nichts zu tun hätte. Seltsame Helden wurden geboren, darunter die Vorstandsriegen der Großklubs Paris Saint-Germain und Bayern München, die nicht zu den Gründungsmitgliedern der Super League zählten. Michael Rummenigge, Vorstandsvorsitzender des deutschen Rekordmeisters, ist freilich bekannt dafür, Vorschläge, denen zufolge TV-Gelder gerechter unter Fußballklubs zu verteilen seien, als »Sozialismus« abzuschmettern.

Doch was die Super League betrifft, so hatten die Bayern-Bosse um den 2014 wegen Steuerhinterziehung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilten Ehrenpräsidenten Uli Hoeneß sowie die katarischen Eigentümer von Paris Saint-Germain wohl den richtigen Riecher. Die Liga war nämlich nach 48 Stunden schon wieder Geschichte. Die englischen Klubs waren als erste abgesprungen, danach folgten zwei der italienischen und einer der spanischen. Übrig blieben Real Madrid, der FC Barcelona und Juventus Turin. Wie weit man den Fußballelitismus auch treiben mag, für eine Liga ist das zu wenig.

Kein Sieg der Fans

Ein Sieg der Fußballzivilgesellschaft? Von Fans, die endlich genug haben von immer teureren Tickets und immer komplizierteren Pay-TV-Paketen? Es ist eine verlockende Erzählung. Doch sie stimmt nicht. Die Super League scheiterte nicht an aufgebrachten Fans. Diese waren einkalkuliert. Es gab in den letzten Jahrzehnten immer wieder Fanproteste gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs, die sich gegen Spieltage mit sechs verschiedenen Anstoßzeiten genauso richteten wie gegen die Umbenennung von Stadien (»Allianz Arena«, »Signal Iduna Park« usw.) und Vereinsträgern wie Red Bull. Doch letztlich gab man sich wieder dem Spektakel hin. (In Deutschland war der Widerstand dank einer gut organisierten Fankultur, die teilweise mit dem aktivistischen Politmilieu überlappt, noch am erfolgreichsten. So wurden zumindest Stehplätze erhalten und Montagspiele in der Ersten Bundesliga nach einem kurzen Zwischenspiel wieder abgeschafft.)

Die Entwicklung des Fußballsports in den letzten Jahrzehnten wird oft als »Hyperkommerzialisierung« beschrieben. Diese deckt sich mit der neoliberalen Ära. Anfang der 1990er Jahre kam es zu neuen nationalen und internationalen Wettbewerbsformaten. Vor allem die englische Premier League und die europäische Champions League (beide 1992 gegründet) wurden zu global vermarkteten Produkten. Vereine gingen an die Börse und Großinvestoren (oft aus dem Ausland) stiegen ein. Einige Zahlen zur Verdeutlichung: 1992 war der am besten verdienende Fußballspieler Diego Maradona mit einem geschätzten Jahreseinkommen von zehn Millionen Euro – sein argentinischer Landsmann Lionel Messi verdiente im vergangenen Jahr 100 Millionen Euro. 1992 wurde vom AC Mailand für den heute praktisch in Vergessenheit geratenen italienischen Stürmer Gianluigi Lentini eine Rekordablösesumme gezahlt, nämlich 15 Millionen Euro – heute steht der Rekord bei 222 Millionen Euro, bezahlt 2017 von Paris Saint-Germain für den Brasilianer Neymar. Der erste TV-Deal der englischen Premier League brachte 1992 pro Saison 40 Millionen Euro – heute werden pro Saison zwei Milliarden Euro gezahlt. Identisch die Entwicklung der UEFA-Umsätze bei der Fußball-Europameisterschaft der Herren: 40 Millionen Euro waren es 1992 bei der EM in Schweden – fast zwei Milliarden Euro bei der letzten EM, 2016 in Frankreich. Das sind Steigerungsraten von 5000 Prozent.

Super League Light: die Champions League

Fußball wurde zu einer Industrie, die, wie andere Industrien im Zeitalter des Neoliberalismus, auf Pump lebt. Die Summen, die zirkulieren, liegen weit über dem inneren Wert des Produkts. Es handelt sich um eine klassische Spekulationsblase. Wenn das vorher nicht klar war, so hat es spätestens die Corona-Pandemie offensichtlich gemacht. Die Aussicht, das Geld der besonders lukrativen TV-Verträge zu verlieren, löste bei Klubs und Verbänden Panik aus. Nachdem deren Interessen mit anderen wirtschaftlichen und damit auch politischen in enger Verbindung stehen, kam es für den Fußball zu allerlei Ausnahmeregelungen. Der professionelle Spielbetrieb musste um jeden Preis aufrechterhalten werden. Manche der Konsequenzen waren aberwitzig. Der norwegische Verein Molde FK trug im Februar 2021 sein Heimspiel im Europa-League-Play-Off gegen die TSG Hoffenheim im spanischen Villareal aus. Eine vergleichsweise kurze Anreise zur neuen »Heimstätte« hatte RB Leipzig, das im Champions-League-Play-Off den FC Liverpool in Budapest empfing.

Trotz Konzessionen dieser Art führte die Dauer der Pandemie bei den hoch verschuldeten Großklubs zu immer mehr Unruhe. Die überstürzte Ankündigung der Super League war Ausdruck davon. Die Idee einer eigenen Liga für europäische Großklubs spukt seit Langem in den Köpfen der Verantwortlichen herum. Allerdings ging es nun einigen zu langsam. Die jüngste Champions-League-Reform begünstigt – wie immer – die Großklubs, soll aber erst 2024 in Kraft treten. Dazu meinte Real-Madrid-Präsident Florentino Pérez, der als erster Vorsitzender der Super League vorgesehen war: »2024 sind wir alle schon tot.«

Eine Auslagerung der Fußball-Elite in ein geschlossenes System nach US-amerikanischem Vorbild könnte der Basis sogar gut tun.

Die Herren der UEFA waren darüber erzürnt, dass die Super League an jenem Tag verkündet wurde, an dem das UEFA-Exekutivkomitee die besagte Reform verabschiedete. Die Reform garantiert nicht nur den großen Ligen (England, Spanien, Italien, Deutschland) eine unangemessene Anzahl an Fixplätzen, sondern sieht sogar Plätze für »historisch erfolgreiche« Klubs vor, die sich auf sportlichem Wege gar nicht qualifizieren konnten. Im Grunde handelt es sich um eine Super League Light. Die Unterschiede zu einer unabhängigen Super League bestehen darin, dass die UEFA die Kontrolle über die Vermarktung und Fernsehrechte behält, ihre politische Macht behauptet und die nationalen Verbände durch Förderungen und Minimalanreize bei der Stange hält (ein paar wenige Champions-League-Plätze auch für kleinere Ligen). Der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich und dem Warencharakter des Fußballs setzt sie nicht das Geringste entgegen.

Sky versus DAZN

Vieles an der Empörung über die Super League war augenscheinliche Heuchelei. Das gilt für die immer wieder von Korruptionsskandalen heimgesuchte UEFA genauso wie für den Medienkonzern Sky, der vor allem in England gegen die Super-League-Pläne Stimmung machte. Kaum ein Unternehmen hat den Fußball von seiner Fanbasis in der Arbeiterklasse weiter entfernt als Sky. Für die Kommerzialisierung des Sports war das Unternehmen maßgebend. Doch plötzlich wetterte man gegen die »Gier« der Super-League-Gründer und schreckte auch vor nationalistischer Stimmungsmache nicht zurück: Den ausländischen Klubeigentümern fehle es an »Loyalität gegenüber England« konstatierte eine Expertenrunde auf »Sky Sports Football«. Warum die starke Opposition? Nun, Sky besitzt Übertragungsrechte für mehrere nationale Fußballligen, darunter die Premier League, die in praktisch alle Länder der Welt übertragen wird. Eine europäische Super League wäre diesem Geschäft nicht zuträglich. Und für die Übertragungsrechte an dieser wurden andere Medienkonzerne, allen voran DAZN, als heißeste Kandidaten gehandelt.

Was wir beobachten, ist ein sich intensivierender Kampf unterschiedlicher Kapitalfraktionen in Krisenzeiten. Der Fußball, wieder einmal, als Spiegelbild der Gesellschaft. Es scheint, als hätten sich Florentino Pérez und seine Kumpanen verkalkuliert. Sie glaubten, es gleichzeitig mit der UEFA, Medienkonzernen und protektionistischen politischen Kräften aufnehmen zu können. Vielleicht unterschätzten sie gerade Letztere. Die Ankündigung des britischen Premierministers Boris Johnson, rechtlich gegen die englischen Super-League-Vereine vorzugehen, mag für deren Rückzug im Eiltempo ausschlaggebend gewesen sein.

Das Super-League-Fiasko erscheint als Gewinn für den Fußball. Doch das ist es nicht. Dem Fußball geht es dadurch nicht besser. Eine Auslagerung der Elite in ein geschlossenes System nach US-amerikanischem Vorbild könnte der Basis sogar gut tun. Noch besser wäre freilich, wenn die Blase der Fußballindustrie zum Platzen kommt. Dem Theater des vergangenen Monats nach zu schließen, sind wir davon nicht weit entfernt.

Gabriel Kuhn

lebt als Journalist und Autor in Schweden.