analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 693 | Kultur

»Sie sollen Klassenverräter werden«

Der Autor D Hunter spricht über Diskriminierung und Ausgrenzung in der britischen Klassengesellschaft

Interview: Jacinta Nandi

Eine Gruppe Feuerwehrleute hält den Strahl eines Wasserschlauches auf ein fast ausgebranntes Haus an einer Kreuzung, auf dem Haus ein repräsentatives Türmchen
Manchmal explodiert die Wut über Ausgrenzung: Ein Brand während der Ausschreitungen in London 2011. Foto: Alan Stanton / Wikimedia, CC BY-SA 2.0

D Hunter, der in einer Familie von Irish Travellers geboren wird, unterstützt seine nur 13 Jahre ältere Mutter mit Arbeit als minderjähriger Sexarbeiter und Drogenkurier – und landet mit Anfang 20 im Gefängnis. Dort fängt er an, sein Leben, seine Traumata, seine Klasse und Identität politisch zu sehen und ist seitdem Aktivist. Auf Deutsch ist jetzt sein Buch »Auf uns gestellt« erschienen, dort beschreibt der Autor die Gewalt innerhalb der Unterschicht, aber auch die Gewalt, die der Unterschicht angetan wird.

In deinem Buch beschreibst du deine Kindheit als Irish Traveller. Viele Deutsche können mit dem Begriff wenig anfangen, sie denken an Tourist*innen aus Irland. Willst du uns ein bisschen erklären, was Irish Travellers sind und was es bedeutet, ein Irish Traveller zu sein?

D Hunter: Die Irish Travellers sind eine Bevölkerungsgruppe, die einen nomadischen Lebensstil haben. Die Irish Travellers haben begonnen, so zu leben, um sich gegen die Engländer*innen zu verteidigen, die Irland kolonisierten. Sie lebten bis in die späten 1960er Jahre so. Ab da gab es immer wieder Maßnahmen, um die Traveller Community zu unterdrücken – man hat uns gezwungen, uns niederzulassen. Unsere Wohnwagen wurden angezündet – und die Polizei hat uns nicht beschützt. Oft gab es den Verdacht, dass es Polizist*innen waren, die unsere Heime niederbrannten. Und dann wurden immer mehr Travellers in Sozialsiedlungen zwangsuntergebracht. Sie wurden gezwungen, sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen.

Im Buch beschreibst du, wie deine Kindheit als Traveller dein Leben beeinflusst hat.

»Auf uns gestellt« ist mein zweites Buch. Mein erstes Buch, »Chav Solidarity«, ist gar nicht auf Deutsch erschienen. »Chav Solidarity« ist ein wütendes Buch – ein Aufschrei –, es ist ein sehr politisches Buch, das versucht, soziale Bewegungen zu beschreiben. »Auf uns gestellt« dagegen, das jetzt in Deutschland erschienen ist, ist eine autobiografische Auseinandersetzung, eine Fortsetzung, aber mit mir als Hauptfigur. Darin versuche ich rauszufinden, was es bedeutet, arm, ja marginalisiert, aufzuwachsen. Und ich wollte auch irgendwie rausfinden, warum so viele Bewegungen, die soziale und politische Veränderungen anstreben, sich nicht wirklich mit den Ärmsten der Gesellschaft engagieren wollen.

Ist Armut traumatisierend?

Ja, auf jeden Fall, wobei man sagen muss, dass es in unserer Community, der Irish Traveller Community, um ein bestimmtes Trauma geht. Wir sind Arbeiter*innenklasse, sogar Unterklasse, und wir werden nicht nur aus der Gesellschaft ausgegrenzt, sondern besonders von der Polizei, vom Gefängnissystem unterdrückt. Und deswegen plädiere ich dafür, die Polizei und auch das Gefängnis abzuschaffen. Ich bin in einem System aufgewachsen, das uns belästigt, gemobbt, schikaniert und drangsaliert hat. Man kann den Schaden, den dieses System anrichtet, nicht groß genug schätzen, was es mit einem macht, wenn man mit der ständigen Angst vor Behörden groß wird. Wir lebten in ständiger Angst vor der Polizei, vor Sozialarbeiter*innen, vor Menschen mit Macht. Und einer Angst davor, dass Familie und Freund*innen uns weggenommen werden könnten. Das ist Unterdrückung. Die Kinder wachsen auf in Angst, permanent beobachtet und kontrolliert zu werden. Und es ist sehr wichtig, dass man versteht: Diese Belästigung, die vom Gefängnissystem kommt, von der Polizei, von den Sozialarbeiter*innen, die ist tief verbunden mit der Entmenschlichung unserer Bevölkerungsgruppe.

Du beschreibst in deinem Buch, wie du selbst im Gefängnis warst. Glaubst du, dass du traumatisiert bist von diesen Erlebnissen?

Ja, natürlich bin ich traumatisiert, aber auch von meiner Kindheit und der permanenten Überwachung, mit der ich groß wurde. Aber ich finde, dass ich mich einigermaßen erholt habe. Ich habe Freund*innen, die sich vom Gefängnis nie erholt haben, die nicht zur Ruhe kommen. Die hatten dieselben Erlebnisse wie ich – aber sie waren nicht fähig, sich an die Normen der Gesellschaft zu gewöhnen. Sie konnten sich nicht anpassen.

D Hunter

1979 geboren, reflektiert in seinen Büchern »Chav Solidarity« (2018) und »Auf uns gestellt« (2023) sein Leben als Gefangener, Obdachloser, Drogenabhängiger, politischer Agitator und Organisator. Er lebt in Manchester und promoviert zu der Frage, wie Weißsein und Männlichkeit die Solidarität der Arbeiter*innenklasse behindern.

Hast du dich besser an die Erwartungen der Middle Class angepasst als deine Freund*innen?

Ich bin jetzt Aktivist und seit meiner Zeit im Gefängnis habe ich mich in aktivistischen Räumen bewegt. Ich interagiere mit Menschen aus der Middle Class und ich bin in den Augen der Middle Class ein guter Bürger. Ich würde sagen, dass ich als Middle Class durchgehen kann.

Denkst du manchmal, dass du vielleicht ein Klassenverräter bist?

Für mich gibt es zwei Formen von Klassenverrat. Ich erwarte von Menschen aus der Middle Class, dass sie ihre soziale Klasse verraten, um die Revolution zu unterstützen. Sie sollen Klassenverräter*innen werden. Das erwarte ich. Nein, ich verlange es von ihnen. Aber es gibt auch Menschen, die offiziell zur Arbeiter*innenklasse gehören, und die diese Klasse unterdrücken. Damit meine ich jeden Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, der bei der Polizei arbeitet. Ein Bulle ist immer Klassenverräter*in, ohne Frage. Er unterdrückt seine eigene Klasse.

Die Kinder wachsen auf in Angst, permanent beobachtet und kontrolliert zu werden.

Die Regierung von Margaret Thatcher entschied in den 1980er Jahren, dass alle ihre Sozialwohnung kaufen dürfen. Mein Opa hat seine Sozialwohnung damals für sehr wenig Geld gekauft, er war Elektriker. Danach war er Hausbesitzer. Hat damit seine Klasse verlassen und verraten?

Ich kann diese persönliche Frage zu deinem Opa nicht beantworten! Aber wir tun alle Dinge, oder besser gesagt, Taten von Klassenverrat. Eine Sozialwohnung zu kaufen oder einen Doktor zu machen zum Beispiel. Niemand ist perfekt. Aber das ist was anders, als Bulle zu sein!

In Deutschland und Großbritannien ist gerade eine komische Idee im Umlauf, und sie ist in beiden Ländern sehr ähnlich. Wenn ein weißer Mensch wenig gebildet ist, ziemlich rechtskonservativ und ein bisschen rassistisch – dann ist er Arbeiter*innenklasse. Aber egal, wie arm du bist, wenn du ein bisschen braune Haut hast und linke Politik gut findest und vielleicht einen Latte trinkst, gehörst du zur Elite. Ich finde das bizarr.

Ja, es gibt auf jeden Fall den Versuch von den rechtskonservativen aber auch den liberalen Medien, soziale Klasse als eine kulturelle Angelegenheit darzustellen. Die Idee ist, die Arbeiter*innenklasse ist weiß, männlich, am besten auf dem Land arbeitend. Aber es gibt eine längere Geschichte dahinter, es gibt eine Tradition, in diesem Versuch, verschiedene Teile der Arbeiter*innenklasse gegeneinander auszuspielen. Und es gibt auch den ziemlich verzweifelten Versuch der rechtskonservativen Medienhäuser, all ihren Rassismus, ihre Homophobie und ihre Transfeindlichkeit auf die Arbeiter*innenklasse zu projizieren. Aber die Wahrheit ist, die Arbeiter*innenklasse ist sehr divers. Manche sind rassistisch, manche nicht – und manche sind auch queer. Die rechtskonservativen Medien möchten nicht drüber schreiben, aber Menschen aus Arbeiter*innenklasse bekommen noch mehr Probleme, wenn sie außerhalb der cisheteronormativen Normen leben wollen.

Es gibt kein gutes Wort auf Deutsch für Chav. Proll kann man auf Deutsch sagen, aber es erklärt das Wort nicht wirklich. Wie würdest du das Wort erklären für jemanden, der kein Englisch spricht? Es ist ein sehr gewalttätiges Wort.

Es gibt ein paar Erklärungen dafür, wie das Wort entstanden ist. Manche behaupten, es sei ein Akronym, für Council House And Violent (Sozialwohnung und gewalttätig). Aber manche sagen, es kommt von einem Romani Wort für Junge. Aber egal, woher es eigentlich herkommt, es ist ein Wort, das in den späten 1990er Jahren beliebt geworden ist. Es wird benutzt, um die Arbeiter*innenklasse und die Unterschicht zu entmenschlichen und zu erniedrigen. In den letzten Jahren ist es ein bisschen weniger beliebt geworden.  Es ist kein Zufall, dass dieses Wort in einer Zeit in Mode gekommen ist, als sich unsere Gesellschaft nur aufs Individuum konzentriert hat und das Gesellschaftliche ignorieren wollte. In einer Zeit, in der man den Armen die Schuld an ihrer Armut geben wollte. (1)

Ich fand dein Buch sehr deprimierend, sehr trist, aber du bist kämpferisch, und ich glaube, dass du auch ein optimistischer Typ bist. Hast du Hoffnung für die Zukunft?

Ich will mir keine Prognose erlauben. Aber ich hoffe, dass es mehr Solidarität in Zukunft gibt, größere, tiefere Solidarität und dass die Arbeiter*innenklasse anfängt, nicht nur zu überleben, sondern zu gedeihen. Wir sollten uns daran erinnern, dass für die Arbeiter*innenklasse immer galt: Unser Leben haben wir immer nur dann weiterführen können, wenn wir widerständig waren. Die Arbeiter*innenklasse muss Widerstand leisten. Wir werden kämpfen müssen.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).

Anmerkung:

1) Die konservative Premierministerin Margaret Thatcher regierte von 1979 bis 1990. Ihre liberale und gewerschaftsfeindliche Politik sorgte für eine Verarmung der Arbeiter*innenklasse, einen Anstieg der Obdachlosigkeit und eine Ideologie, die den Armen Schuld an ihrer eigenen Armut gab.