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|ak 671 | Geschichte

»Wir haben auch abgetrieben, weil wir durften«

Wenn über Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland gesprochen wird, wird eine Perspektive häufig vergessen: die der Schwangeren in der DDR

Von Jessica Ramczik

Eine Demonstration, Menschen tragen Schilder gegen § 218
Protest gegen den Abtreibungsparagraphen 218 in West-Berlin im September 1990: Das Ende der DDR bedeutete für Schwangere in Ostdeutschland, dass Schwangerschaftsabbrüche von nun an nicht mehr legal waren. Foto: Bundesarchiv/wikimedia commons, CC BY-SA 3.0 DE

Es gibt sie nicht – die eine Geschichte von Schwangerschaftsabbrüchen. Auch in der DDR nicht. Es gibt nicht das eine Narrativ über jene, die abgetrieben und nie gezweifelt haben, ebenso wenig wie es nur diejenigen gibt, die es bis heute bereuen, abgetrieben zu haben. Fest steht aber: So unterschiedlich die einzelnen Biografien und Beweggründe der Schwangeren waren, Abtreibungen waren in der DDR möglich und legal. Ihre Geschichte ist nicht nur eine Geschichte von individueller Freiheit, sondern auch eine von wirtschaftlichen Zwängen und patriarchaler Gewalt.

»Natürlich hatten zuhause und in der Gesellschaft Männer das Sagen und natürlich hat man auch erlebt, dass Frauen sexuell belästigt wurden«, erzählt mir Birgit S. Sie ist eine derer, die in der DDR von ihrem Recht auf Abtreibung Gebrauch gemacht haben. Wenn sie über ihre Schwangerschaftsabbrüche spricht, dann wirkt sie aufgeregt, so wie jemand, der dringend etwas zu erzählen hat. Darüber, dass es selten Erzählungen über Schwangere in der DDR gibt, hat sie noch nie richtig nachgedacht, sagt sie. Auch Ute U. hat in der DDR einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Damals war sie 43 Jahre alt. »Frauen hatten in der DDR ja alle Möglichkeiten. Eine klare Rollenverteilung gab es aber. Männer standen aber schon über den Frauen, damals war das normal und ich hätte mir das auch gar nicht anders gewünscht«, sagt sie.

Als Birgit ihren ersten Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ, hatte sie bereits eine Tochter. Unter all den Frauen, mit denen ich gesprochen habe, machen die Geschichten von ihr und Ute am deutlichsten, wie selbstbestimmt, aber auch wie ambivalent und komplex das Thema Abtreibung in der DDR war. Es war nicht die fehlende Fürsorge des Staates, der Schwangere dazu bewog, eine Schwangerschaft zu beenden. Es waren oft ganz individuelle Lebensumstände. So spielte es in den Entscheidungen über eine Beendigung einer Schwangerschaft oftmals keine Rolle, dass es kostenlose Kindergartenplätze und Wochenkrippen zur Betreuung der Kinder von Schichtarbeiterinnen und sogar kostenlose Verhütung in der Form der Pille gab.

»Verhütung war in der DDR Frauensache«, erzählt Birgit. Kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter wird sie wieder schwanger. Ihre Geschichte zeichnet ein Bild von fehlender Selbstbestimmung und emotionaler Machtausübung in einer Beziehung. Ihr damaliger Partner wollte das Kind nicht. Sie fühlte sich vom Partner dazu gedrängt, einen Abbruch vornehmen zu lassen. Birgit beendete die Schwangerschaft. Heute bereut sie die Abtreibung. »Da denke ich noch heute dran.« Sie sagt, dass sie sich gewünscht hätte, sich besser gegen den Partner behaupten zu können.

Die meisten Frauen, mit denen ich gesprochen habe, kennen auch das Gefühl der Reue. So auch Ute. Ihr Mann überließ ihr die Entscheidung, obwohl er sich das Kind gewünscht hätte. Auch sie sagt, dass sie manchmal noch an die Abtreibung denkt und sich gewünscht hätte, dass ihr Partner sich durchgesetzt hätte: »Ich denke schon oft daran, dass ich jetzt noch einen Jüngeren hätte. Vielleicht war das doch ein Fehler. Das frage ich mich schon.« In einer Sache sind sich die beiden Frauen dennoch einig: Eine freie Entscheidung über eine Schwangerschaft ist wichtig.

Instabile Partnerschaften

Frauen standen trotz eines emanzipierten Frauenbildes in der DDR unter enormen Druck. »Wir sollten ja gleichzeitig gute Mütter sein, während wir Vollzeit arbeiten gegangen sind«, erklärt mir Birgit. »Gleichzeitig standen wir auch unter enormem wirtschaftlichem Druck. Ich hatte erst später eine eigene Wohnung. Der echte Grund war aber, dass ich mich nicht auf meinen damaligen Freund verlassen konnte. Der war weg, bei der NVA.«

»Tatsächlich ist es so, dass der Hauptgrund für eine Abtreibung eine wie auch immer geartete instabile Partnerschaft war. Das lässt sich sicherlich auch auf die DDR übertragen. Die sozial- und familienpolitische Ausrichtung spielt meines Erachtens da gar nicht so sehr eine Rolle«, sagt Katja Krolzik-Mattei, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Merseburg, die zu reproduktiven Rechten forscht.

Bis zum Ende der 1980er Jahre wurde in der DDR jede dritte Schwangerschaft abgebrochen.

Das am 9. März 1972 in Kraft getretene Gesetz über die Unterbrechung einer Schwangerschaft präsentierte die DDR-Führung als eine Art Geschenk zum Frauentag. Sein wichtigster Inhalt: »Bis zum Ablauf von drei Monaten kann eine Frau selbst entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft unterbrechen möchte.« Während einer Sitzung des Sekretariats des ZK am 1. Dezember 1971 wurde die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in der ZK-Abteilung Frauen im Zusammenhang mit der sinkenden Anzahl von Frauen in der Produktion zur Sprache gebracht. Frauen sollten so schnell wie möglich wieder in den sozialistischen Produktionsapparat integriert werden. Eine ungewollte Mutterschaft hätte dies in den Augen des ZK erschwert. Das Gesetz war auch eine Antwort auf zunehmende Forderungen der Frauen nach mehr Selbstbestimmung, die gerade im medizinischen Bereich durch ihren wachsenden Anteil innerhalb der Ärzt*innenschaft lauter wurden. Die Debatte fiel außerdem in eine Zeit umfassender Rechtsreformen nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker, der Frauen und besonders berufstätige Mütter zu Hauptadressatinnen seiner Sozialpolitik machte.

Schwangerschaftsabbrüche waren in der DDR keine Seltenheit. Die Zahl der Abtreibungen stieg nach 1972, also nach der Legalisierung, tatsächlich sprunghaft an. Während 1966 17.500 Schwangerschaftsabbrüche in der DDR genehmigt wurden, waren es 1973, im Jahr nach der Legalisierung, bereits 113.232. Eine Genehmigung brauchte es nicht mehr. Die DDR-Führung wusste auch um die Anzahl der Frauen, die illegal abgetrieben hatten und welche gesundheitlichen Folgen dies für die Betroffenen hatte. Vor der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüche starben jährlich 80 Frauen an den Folgen des Abbruchs. Von einer höheren Dunkelziffer kann ausgegangen werden. Eine Legalisierung diente mithin auch dazu, die ohnehin stattfindenden Schwangerschaftsabbrüche sicherer zu machen. Bis zum Ende der 1980er Jahre wurde in der DDR jede dritte Schwangerschaft abgebrochen. Schwangerschaftsabbrüche wurde in fast allen Krankenhäusern der DDR vorgenommen. Es gab Spezialabteilungen, die den Eingriff geradezu fließbandartig vornahmen. Auch Birgit benutzt diesen Begriff. Öffentlich gesprochen wurde darüber jedoch selten. »Ich habe erst neulich mit einer Freundin darüber gesprochen. Auch da wurde mir klar, wie oft auch Freundinnen einen Abbruch hatten. Das war mir so auch nicht bewusst. Im Grunde haben wir es alle gemacht, aber niemand hat darüber gesprochen.« Auf die Frage, was das Wissen darüber geändert hätte, antwortet sie: »Das hab‘ ich schon zu meiner Freundin gesagt: Hätte sie mir das erzählt, dann hätte ich sie auch besucht oder sie sonst irgendwie unterstützt.« Ute bestätigt, dass auch sie nicht über ihren Abbruch gesprochen hat: »Und das, obwohl man eigentlich wusste, dass es alle gemacht haben. Einfach auch weil es etwas Natürliches war, man durfte das eben, weil das seitens des Staates erlaubt war, und dann haben wir das alle gemacht.«

Verantwortungsbewusste Entscheidungen

Der Vorwurf vieler Kritiker*innen lautet auch 2021 noch, dass mit einer Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen diese viel zu leichtfertig durchgeführt würden. Mancher CDU-Politiker wollte bereits unmittelbar nach der Wende in der DDR-Abtreibungspolitik die Gründe für Kindstötungen sehen. Eine in den Jahren 1979/80 in zahlreichen Frauenkliniken durchgeführte Studie kam allerdings zu dem Schluss, der Umgang mit dem Gesetz sei »sehr verantwortungsbewusst« gewesen. »Ich habe Karriere gemacht, ich mochte meinen Beruf und ich war mit 43 Jahren auch schon Oma. Außerdem war meine Schwangerschaft furchtbar, und meine Mutter hatte gerade erst einen Schlaganfall erlitten, sodass ich mich um sie kümmern musste. Und dann nochmal zu windeln anfangen. Da war ich einfach zu faul«, sagt Ute. So waren es tatsächlich vor allem Frauen, die bereits Kinder hatten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen ließen. Auch das haben Birgit und Ute gemeinsam. Beide waren bereits Mütter, als sie ihre Schwangerschaft beendeten, und auch wenn die Gründe bei beiden verschiedener nicht sein können, hat es sich keine der beiden leicht gemacht.

Ob wirklich die Legalisierung der Abtreibung dazu führte, dass Schwangerschaftsabbrüche zu einer Art Verhütungsmethode avancierten, ist fraglich. Katja Krolzik-Matthei merkt hier an, dass diese Annahme auch im Lichte der Verhältnisse der damaligen Zeit betrachtet werden müsse: »Die Pille war sicherlich kostenlos, aber man darf die Präparate auch nicht mit denen vergleichen, die heute auf dem Markt sind.« Daher habe es auch ein anderes Verhältnis zur Einnahme der Pille gegeben. Generell existierte in der DDR ein eher funktionaler Umgang mit werdendem Leben. »Dieser war wesentlich rationaler als in der BRD«, so Katja Krolzik-Matthei. Ute teilt diesen Eindruck: »Ich würde nicht sagen, dass das egal war, aber ich hatte mir das schon gut überlegt. Im Grunde genommen stand es immer fest, dass ich das mache.«

Abtreibungsgegner*innen fordern immer wieder das Aufrechterhalten des Beratungszwangs im Vorfeld eines Schwangerschaftsabbruches. Auch Ärzt*innen in der DDR bemängelten, dass die im Gesetz ebenfalls ausdrücklich vorgeschriebene Beratungspflicht durch eine regelrechte Massenabfertigung aus Zeitgründen nicht selten vernachlässigt wurde. Eine Zwangsberatung existierte also zumindest faktisch oft nicht.  Die Stimmen der Interviewten zeigen aber vor allem eins: Der Wunsch nach Aufklärung und kompetenter Gesundheitssorge beinhaltet nicht automatisch den Wunsch nach Zwangsberatung zum Zwecke der Erhaltung der Schwangerschaft. »Das, was es heute gibt, dass man ordentlich aufgeklärt wird – das gab es nicht. Ich hätte mir das aber gewünscht«, sagt Birgit. »Man ist da eben hingegangen, und dann war es aus der Welt. Gleichzeitig war das natürlich auch sehr unkompliziert. Ob ich es jetzt gut finde, dass Frauen zu einer Beratung gezwungen werden, weiß ich nicht. Gewünscht hätte ich mir aber eine umfassende Aufklärung.« Tatsächlich beinhalteten die Durchführungsbestimmungen zum Gesetz über die Unterbrechung von Schwangerschaften zur Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch lediglich, dass Schwangere über die medizinische Bedeutung des Eingriffes und über Methoden der Schwangerschaftsverhütung aufgeklärt wurden, nicht aber darüber, wie eine Schwangerschaft fortzuführen sei. »Das war sehr unkompliziert. Ich habe eine Überweisung von meinem Frauenarzt bekommen, und dann konnte ich direkt ins Krankenhaus, und dort ging das eigentlich sehr schnell«, erinnert sich Ute.

Gleichzeitig gab es parallel dazu auch die Wunschkindpolitik in der DDR. »Die Frauen sollten Wunschkinder bekommen und davon auch möglichst viele. Da steckte auch ein Appell an Frauen drin, eine Schwangerschaft möge besser abgebrochen werden, wenn es sich dabei nicht um Wunschkinder handelte«, sagt Krolzik-Matthei. Laut der Wissenschaftlerin diente das nicht nur dazu, frauenfreundliche Politik zu betreiben, sondern auch, um den sozialistischen Produktionsapparat am Laufen zu halten.

Jessica Ramczik

ist freie Journalistin. Sie schreibt über die DDR, Feminismus und ländlichen Aktivismus. Sie lebt und arbeitet in Leipzig.