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|ak 698 | Alltag |Kolumne: Jawoll, euer Ehren

Scham unterm Himmelszelt

Von Moritz Assall

»Scham«, so der Biobauer und Kulturwissenschaftler Volker Woltersdorf, »Scham ist das Gefühl, mit dem die Einzelnen auf die Erfahrung sozialer Ausgrenzung und Abwertung reagieren und viel zu oft allein gelassen sind. Scham in Wut und Stolz zu verwandeln, war das Ziel verschiedener Emanzipationsbewegungen.« Elena Simon schrieb: »Dieses Gefühl ist für Frauen gedacht. Frau-Sein heißt Scham haben« und verwies auf Scham als Normen und Herrschaftsverhältnisse aufrechterhaltende Kraft. Und auch der Journalist Till Briegleb wies in seiner »Kulturgeschichte der Scham« darauf hin, dass vor allem Frauen seit den Fünfzigerjahren für die Freiheit von belastenden Schamgefühlen, Scham-Androhungen und moralische Konventionen gekämpft haben.

Dieser Kampf findet sich auch in aktuellen juristischen Auseinandersetzungen wieder – am prominentesten sicherlich in der von breiter Medienberichterstattung begleiteten laufenden gerichtlichen Auseinandersetzung um das »Oben-ohne-Verbot« für Frauen im Berliner Schwimmbad »Plansche«.

Hier hatte eine Frau geklagt, die des Schwimmbads verwiesen wurde, weil sie sich wie die anwesenden Männer »oben ohne« dort aufhielt. Das Berliner Landgericht hatte diese Bekleidungsregeln mit Verweis auf das »geschlechtliche Schamgefühl des Menschen« als rechtmäßig beurteilt, nun geht es durch die Instanzen. Ebenfalls juristisch schwierig zu sein scheint die Frage, wann in der Öffentlichkeit gestillt werden darf – immerhin könnte auch dabei etwas Brust zu sehen sein. Kann so eine Schamlosigkeit rechtlich zulässig sein?

Bereits 2016 wurde zur Klärung dieser Frage der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags mit einem juristischen Gutachten beauftragt, konkret sollte die rechtliche Zulässigkeit des Stillens in Cafés und Gaststätten untersucht werden. Das Gutachten unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Fallgruppen. Kein Problem besteht, »wenn der Gastwirt das Stillen nicht beanstandet«, dann steht laut Gutachten auch anderen Personen »insoweit kein Unterlassungsanspruch gegen die stillende Mutter zu.«

In anderen Fällen kann allerdings durchaus auch ein Hausverbot gegen die stillende Frau rechtlich zulässig sein, denn schließlich erscheine es »jedenfalls möglich, dass sich ein Teil der Bevölkerung durch die mit dem Stillen einhergehende Intimität selbst unangenehm berührt fühlt und mit diesem Vorgang jedenfalls in der Öffentlichkeit nicht konfrontiert werden möchte« – so das Gutachten zu der aus dem prallen Leben gegriffenen rechtlichen Konstellation: »Der Gastwirt beanstandet das Stillen, vor Entstehen eines Bewirtungsvertrags mit der stillenden Frau, und ohne dass eine bewirtungsvertragliche Regelung zum Stillen etwa als Nebenvereinbarung zum Bewirtungsvertrag getroffen wurde.« Wer kennt es nicht? Wie kompliziert die Dinge doch manchmal sein können.

Deutlich einfacher in Sachen Schamgefühl machte es sich das Amtsgericht Lübeck in einem Urteil vom Juni dieses Jahres. Ein Mann hatte sich in Sichtweite anderer Menschen am Strand in die Ostsee erleichtert und sollte ein Bußgeld wegen »Belästigung der Allgemeinheit« bezahlen. Hiergegen klagte er und bekam Recht. Kann der »Vorgang des Wasserlassens« eine »grob ungehörige Handlung« darstellen, fragte sich das Gericht und kam zu klarem Ergebnis: Nein, denn schließlich finde »bei Sanitäreinrichtungen für Männer (…) unter anderem an durchgehenden Pissoirs, an Rinnen oder sonstigen offenen Abtritten auch das gesellige Wasserlassen statt.«

Der Vorgang des männlichen Urinierens sei »danach auch in Gesellschaft tendenziell eher nicht schambehaftet.« Und dann wurde es poetisch, fast schon schwärmerisch. Im Urteil ist zu lesen: »Nachdem als Anknüpfungspunkt einer Belästigung der Allgemeinheit das Schamgefühl (…) ausgeschlossen werden kann, ist das Verhalten des Betroffenen eine nach der allgemeinen Handlungsfreiheit (…) geschützte und letztendlich wohl auch naturrechtlich verankerte menschliche Willensbetätigung. Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.« Sehr gute Nachrichten also für alle Rehe, Hasen, Robben und Männer. Nur keine falsche Scham! Hier gilt Naturrecht. Ganz einfach.

Moritz Assall

ist Jurist und Kriminalsoziologe. Er arbeitet für die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.