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Was machen die Genoss*innen?

Ewgeniy Kasakows Sammelband über Russlands linke Opposition gegen den Krieg hilft, die Lage und Haltung der dortigen Verbündeten besser nachvollziehen zu können

Von Dietmar Lange

Eine Person mit Maske und Schwarzer Mütze steht in einer Menge bei Nacht und hält ein Schild, wo in kyrillischer Schrift draufsteht "kein Krieg"
Am Abend der Invasion gingen in zahlreichen Städten in Russland Menschen auf die Straßen, um gegen den Krieg zu demonstrieren, hier in Moskau. Foto: Виталий Малышев / Avtozak LIVE , CC BY 4.0

Seit der russischen Invasion in die Ukraine erhält auch die russische Opposition wieder stärkere Aufmerksamkeit. Im Fokus stand bisher vor allem die liberale Opposition, die die Protestbewegungen der Vergangenheit angeführt hatte und auch aktuell die russischen Exilorganisationen sowie die unabhängigen russischsprachigen Medien dominiert. Was macht aber die Linke? Wie steht sie zum Krieg? Und wer ist das überhaupt in Russland? Antworten auf diese Fragen bietet das vorliegende Buch von Ewgeniy Kasakow, der eine Reihe von Erklärungen, Analysen und Einschätzungen russischer linker Organisationen und Einzelpersonen übersetzt und eingeordnet hat. Auch Interviews hat Kasakow zu diesem Zweck geführt, weshalb das Buch auch für diejenigen Neues enthält, die sich schon etwas mit diesen Fragen beschäftigt haben. Zu Wort kommen lässt er die Linken, die sich in der einen oder anderen Weise gegen den Krieg stellen, ob sie nun explizit Partei für die Ukraine als »unterdrückte Nation« ergreifen oder den Krieg aus einer Gegen-Alle-Position ablehnen.

Gegliedert ist das Buch nach Strömungen: Sozialdemokrat*innen und linke Gewerkschafter*innen, Kriegsgegner*innen in der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Trotzkist*innen, Anarchist*innen, aber auch solche, die nicht explizit als linke Strömung auftreten, wenngleich es viele Überschneidungen gibt, wie Feminist*innen und dekoloniale Aktivist*innen. Insbesondere letztere bieten nach Meinung des Autors dieser Rezension die interessantesten Reflexionen, da sie sich in einem weniger starren Korsett traditioneller linker Grundsatzpositionen bewegen, deren Vertreter*innen doch ähnlich wie in Deutschland häufig etwas bemüht wirken, die aktuellen Ereignisse in diese einzupassen. Dazu gehört auch ein Text des »Feministischen Widerstands gegen den Krieg«, der als Reaktion auf einen Brief deutscher Intellektueller verfasst wurde und der die Position vieler russischer Kriegsgegner*innen zum Pazifismus ihrer westlichen Freund*innen auf den Punkt bringt: »Absoluter Pazifismus ist ein Privileg derjenigen, die in Sicherheit sind. Eine Sache ist es, in Zeiten relativer Ruhe an alle Großmächte zu appellieren und zum Frieden in der ganzen Welt aufzurufen, und eine ganz andere, gegen den Militarismus aufzutreten, aber sich an jene Seite zu wenden, die angegriffen wurde.« (S. 209) Solche und ähnliche Positionen, die nicht von allen, aber einem großen Teil auch der russischen Antikriegslinken vertreten werden, führen häufig zu Konflikten in internationalen Zusammenhängen, wie in den Interviews deutlich wird. Auch deshalb ist es gut, dass es jetzt dieses Buch gibt, kann es doch dabei helfen, die Lage und die Haltung russischer Genoss*innen besser nachvollziehen zu können.

Zu Wort kommen Linke aus Russland, die sich in der einen oder anderen Weise gegen den Krieg stellen.

Lobenswert hervorzuheben ist daher auch, dass der Herausgeber jedem Kapitel einen historischen Abriss der Entwicklung der jeweiligen Strömungen, eingebettet in die Geschichte Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, voranstellt. Damit leistet er auch ein gutes Stück Pionierarbeit, wurde die Geschichte der russischen Linken nach 1990 doch noch wenig erforscht. Auch ist dies für den*die deutsche*n Leser*in notwendig, um einige Spezifika der russischen Linken besser verstehen zu können, so zum Beispiel das Phänomen des »Linksstalinismus«. Dabei handelt es sich um die größte linke Strömung außerhalb der KPRF, die jedoch unseren gängigen Kategorisierungen zuwiderläuft; so beziehen sich linksstalinistische Gruppen nicht nur positiv auf die sowjetische Vergangenheit und sogar auf die Figur Josef Stalin, sondern sie versuchen auch, sich aktuellen feministischen und Umweltthematiken zu öffnen. Hier wird auch deutlich, dass eine häufig verwendete Aufteilung der russischen Linken in sowjetnostalgische und »Neue« Linke etwas zu vereinfacht ist. Aber auch die spezifische Rolle der KPRF als »Systemopposition« (womit im russischen Kontext ins System integrierte Opposition und nicht eine gegen das System gemeint ist) und die kriegsunterstützende Haltung ihrer Führung lässt sich nach der Lektüre besser einordnen, auch wenn die Positionen der Pro-Kriegs-Linken nicht expliziter Gegenstand des Buches sind.

Unangenehm sind hingegen die vielen Rechtschreib- und scheinbar auch Tippfehler, die einem doch etwas zu häufig beim Lesen ins Auge springen. Vermutlich hat das seine Gründe darin, dass das Buch aufgrund der Aktualität der Ereignisse schnell fertig werden sollte, handelt es sich doch um eine sehr dynamische Situation, die sich schnell ändern kann. Die hier versammelten Positionen, Stellungnahmen und Interviews reflektieren noch den Zustand vor Ausrufung der Teilmobilmachung im September. Dennoch ist es ein sehr nützliches Buch, das jedem und jeder empfohlen sei, der oder die sich für die russische Antikriegsopposition und ihren linken Flügel interessiert.

Dietmar Lange

ist Historiker der Arbeiter*innenbewegung, der sich aufgrund seiner familiären Wurzeln aktuell viel mit der Situation in Russland beschäftigt.

Ewgeniy Kasakow (Hg.): Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg. Münster 2022, Unrast Verlag. 244 Seiten, 16 EUR.