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Fast vergessen

Der antisemitische Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke 1980 in Erlangen ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt

Von Martina Renner und Sebastian Wehrhahn

Frida Poeschke und Shlomo Lewin wurden am 19. Dezember 1980 Opfer eines antisemitischen Mordanschlags. Foto: Das Schweigen durchbrechen – Antifaschistische Initiative in Nürnberg / Facebook

Vor 40 Jahren wurden der jüdische Verleger und Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin, die Protestantin Frida Poeschke, in ihrem Wohnhaus in Erlangen erschossen. Zwar wurde die Tat vor Gericht verhandelt, jedoch wurden der oder die Täter*innen niemals belangt. Bis heute sind zahlreiche Fragen offen und die Hintergründe und Umstände der Tat ungeklärt.

Mit dem Einbruch der Dunkelheit beginnt am 19. Dezember 1980 der Schabbat. Am Abend sind im Bungalow von Shlomo Lewin und Frida Poeschke in der Erlanger Ebrardstraße die Rolläden heruntergelassen. Es ist ungefähr viertel vor sieben, als Lewin die Haustür öffnet. Er wird von vier Schüssen getroffen und stirbt im Vorraum der Wohnung. Frida Poeschke wird im Wohnzimmer ebenfalls mit vier Schüssen ermordet. Schon wenige Minuten später werden die beiden Leichen entdeckt. Am Tatort findet die Polizei Reste eines selbstgebauten Schalldämpfers, eine Sonnenbrille und acht Hülsen des Kalibers 9mm. Eine Untersuchung ergibt, dass die Schüsse mit einer Beretta Maschinenpistole abgefeuert worden waren und dass die Tatwaffe einmal verlötet gewesen sein muss. Alles weist auf einen geplanten Mord hin. Weder gibt es Hinweise auf einen Kampf noch fehlen Wertgegenstände.

Auf die Tat folgt kein öffentlicher Aufschrei. Stattdessen fokussieren sich Presse und Ermittlungen – ganz ähnlich wie 20 Jahre später nach den Morden des NSU – auf die Opfer und stellen ehrabschneidende Mutmaßungen über deren Lebensführung an. In Bezug auf Lewin schrieben die Erlanger Nachrichten über »Ungereimtheiten seiner schillernden Vergangenheit«, über einen vermeintlichen »Nebenberuf« und fragten: »War er Mitarbeiter des Geheimdienstes?« Die ermittelnden Polizisten wiederum führten in den Wochen nach den Morden vor allem Befragungen im Umfeld der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg durch, deren Vorsitzender Lewin einmal gewesen war.

Die Spur zur Wehrsportgruppe Hoffmann

Konkrete Ermittlungsschritte, um die Täter*innen im Neonazi-Milieu aufzuspüren wurden erst im Februar 1981 unternommen. Dabei wäre diese Spur von Anfang an in jeder Hinsicht naheliegend gewesen. Zum Beispiel enthielt die am Tatort zurückgebliebene Sonnenbrille eine Herstellergravur der Firma Schubert in Heroldsberg. Eben dort, in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten die Neonazis Karl-Heinz Hoffmann und dessen Lebensgefährtin Franziska Birkmann vor ihrem Umzug nach Ermreuth, das wiederum nur ein paar Kilometer von Erlangen entfernt ist.

Die zurückgelassene Sonnenbrille, eine Sonderanfertigung, war ein Geschenk der Firma Schubert an Franziska Birkmann. Auch die verwendete Munition hätte zu Hoffmann weisen können. Es war hinlänglich bekannt, dass die von ihm geführte »Wehrsportgruppe Hoffmann« unter anderem verlötete Maschinenpistolen für ihre Übungen einsetzte.

Auch Hoffmann selbst war zu diesem Zeitpunkt kein Unbekannter. Zu Beginn des Jahres wurde seine Wehrsportgruppe vom Bundesinnenminister verboten, nur wenige Wochen vor den Morden durchsuchte die Polizei sein Ermreuther Schloss im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Oktoberfest. Unter anderem wurde dabei eine italienische Zeitschrift gefunden, die in einem Beitrag zum deutschen Neonazismus neben einem Portrait Hoffmanns auch eine Kritik von Lewin an Hoffmann enthielt. Hoffmann wusste, wer Lewin war und dass er sich auch in Bündnissen gegen Neonazismus engagierte.

Hoffmann pendelte in dieser Zeit zwischen Deutschland und dem Libanon, wo er mit Unterstützung der Palästinensische Befreiungsorganisation, kurz PLO, eine neue Wehrsportgruppe (WSG) aufbaute. Die »Wehrsportgruppe Ausland« bestand aus jungen deutschen Neonazis, denen Hoffmann Abenteuer im terroristischen Kampf gegen Israel und die USA versprach. Der Alltag im Lager Bir Hassan, damals ein Vorort von Beirut, war jedoch weniger abenteuerlich.

Stattdessen prägten sadistische Disziplinierungsmaßnahmen das Lagerleben. Wer beispielsweise gegen das vom Chef verhängte Rauchverbot verstieß, musste mit Drangsalierungen rechnen. Besonders übel misshandelten die Neonazis Kay-Uwe Bergmann. Als der Verdacht aufkam, Bergmann hätte versucht, aus dem Lager zu fliehen, verstärkten die WSG-Mitglieder die Folter. Kurz darauf war Bergmann verschwunden – es galt im Lager als offenes Geheimnis, dass er getötet wurde. Sein Leichnam jedoch ist nie gefunden worden.

Das Grab von Shlomo Lewin in Haifa. Die Inschrift lautet: »Hier ruht unser teurer Rabbi Shlomo Salman Lewin, Sohn des Rabbi David Eliahu, ermordet von Händen von Bösewichten. Gott wird sein Blut rächen.« Foto: Martina Renner

Währenddessen kommen in Deutschland die Ermittlungen zum Mord an Lewin und Poeschke nur langsam voran. Im Februar 1981 wird Franziska Birkmann das erste Mal vernommen. Erst im Mai, ein halbes Jahr nach der Tat, wird der Wohnsitz von ihr und Hoffmann durchsucht.

In den folgenden Wochen und Monaten kehren verschiedene Mitglieder der WSG aus dem Libanon zurück nach Deutschland. Auch Karl-Heinz Hoffmann befindet sich auf der Rückreise aus dem Libanon, als er im Juni 1981 am Flughafen Frankfurt festgenommen wird. Ihm werden die Bildung einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung eines Sprengstoffanschlages vorgeworfen.

Im Zuge der folgenden Zeugenvernehmungen geben zwei Mitglieder der WSG an, dass Hoffmann versucht habe, sie für einen Mord an einem Juden in Deutschland zu rekrutieren. Die Aussagen sind bemerkenswert, weil sie etliche Details enthalten, die auch das tatsächliche Geschehen der Morde auszeichnen. So soll Hoffmann darüber gesprochen haben, einen älteren Juden nahe Ermreuth zu erschießen, wenn dieser die Türe öffnen würde. Sollten weitere Personen im Haus sein, sollten diese auch getötet werden. Zur Tarnung sollten eine Sonnenbrille und eine Perücke verwendet werden, außerdem ein Schalldämpfer.

Schließlich – so sagte WSG-Mitglied Alfred Keeß aus – habe Uwe Behrendt, ein hochrangiges und Hoffmann treu ergebenes WSG-Mitglied, das auch im Schloss Ermreuth wohnte, den Mordauftrag ausgeführt.

Wenige Tage später wurde auch Franziska Birkmann erneut vernommen. Auf die Bemerkung des eines LKA-Beamten, er gehe davon aus, dass Hoffmann, gegen den unterdessen Haftbefehl wegen des Verdachtes des zweifachen Mordes ergangen war, ihr gegenüber eine Tatbeteiligung gestanden habe, nickte sie. Allerdings weigerte sie sich, eine dahingehende Aussage zu Protokoll zu geben, weil sie nicht als Kronzeugin aussagen wollte. Auch weitere Aussagen zur Rolle von Uwe Behrendt lehnte sie ab, weil sie der Überzeugung war, mit einer Aussage zu Behrendt auch Hoffmann belasten zu müssen. Zu diesen Aussagen kam für Hoffmann erschwerend hinzu, dass im Zuge der im Mai erfolgten Durchsuchung seines Schlosses auch eine Perücke gefunden wurde, wie sie von Keeß beschrieben wurde. Außerdem sagten verschiedene Zeug*innen aus, dass Hoffmann in den Monaten vor dem Mord Interesse an dem Bau eines Schalldämpfers gezeigt und diesen schließlich gemeinsam mit Uwe Behrendt auch hergestellt habe. Überreste eines solchen selbstgebauten Schalldämpfers fanden sich am Tatort.

Der Chef will nichts gewusst haben

Die Beweislage gegen Hoffmann verdichtete sich. Während Birkmann der Beihilfe beschuldigt wurde, galten Behrendt und er als Hauptverdächtige. Anders als Hoffmann allerdings war Behrendt flüchtig und hielt sich zu diesem Zeitpunkt im Libanon auf.

In dieser Situation änderte Hoffmann seine Verteidigungsstrategie und erklärte Uwe Behrendt zum Einzeltäter. Hoffmann zufolge habe Behrendt allein die Tat geplant und durchgeführt. Er sei mit Birkmanns Perücke nach Erlangen gefahren und habe die Morde ohne Unterstützung begangen. Nach der Tat habe er die Waffe entsorgt und sei nach Schloss Ermreuth zurückgekehrt. Dort erst habe er die Tat Hoffmann gegenüber gestanden. Hoffmann habe ihn daraufhin bei seiner Flucht, zunächst zu Behrendts Eltern nach Thüringen dann in den Libanon, unterstützt.

Nur wenige Tage nachdem Hoffmann in Deutschland mit dieser folgenschweren Aussage die Grundlage dessen legt, was auch 40 Jahre nach den Morden als offizielle Version der Ereignisse gilt, begeht Uwe Behrendt im Libanon Selbstmord. Das behaupten zumindest Angehörige der Wehrsportgruppe in Vernehmungen. Als Beamte des Bayerischen LKA drei Jahre später im Libanon auf Grundlage von Hinweisen der Neonazis eine Leiche exhumieren und nach Deutschland zur Obduktion überführen, lässt sich zwar feststellen, dass der Tote durch einen Schuss in den Kopf starb. Ob dieser Schuss allerdings selbst beigebracht wurde, ist nicht feststellbar. Es bleiben lediglich die Aussagen der Neonazis, die diese Version der Ereignisse stützen.

Das Gericht folgte Hoffmann auf ganzer Linie. Nach zwei Jahren endete der erste Prozess im Nachkriegsdeutschland, der einen antisemitischen Mord verhandelte, mit dem Freispruch der Angeklagten in allen die Morde betreffenden Punkten. Der tote Einzeltäter konnte nicht belangt werden. Behrendt habe das Opfer einer antisemitischen Logik folgend ausgewählt. Er habe vertreten, dass der israelische Geheimdienst das Oktoberfestattentat inszeniert hatte, um Karl-Heinz Hoffmann und dessen WSG zu diskreditieren. Er richtete seine Rache gegen Lewin, weil dieser Jude war.

Aufschlussreich ist hierzu ein Dokument, das in der Berliner Stasiunterlagenbehörde liegt. Der DDR-Geheimdienst beobachtete den westdeutschen Rechtsterrorismus genau. Die Akte enthält einen Text, den Karl-Heinz Hoffmann im Libanon einem seiner Gefolgsleute diktierte und in dem er genau jene antisemitische Verschwörungserzählung erfand, die er später Behrendt unterschob. Darin heißt es, dass der Anschlag »durch den israelischen Geheimdienst in tödlich präziser Weise kalkuliert, geplant und durchgeführt wurde«, um Hoffmanns Geschäfte mit der PLO zu unterbinden, die WSG-Hoffmann unter Druck zu setzen und die Gefahr des Rechtsterrorismus als Druckmittel für weitere deutsche Zahlungen an Israel hochzustilisieren.

40 Jahre nach den Morden sind noch immer wesentliche Fragen offen: Wie gelangte Behrendt zum Tatort und zurück, was geschah mit der Tatwaffe, und welche Personen wussten von dem Mordvorhaben? Wie plausibel ist es, dass Hoffmann als Chef der Wehrsportgruppe, zu dem Behrendt verschiedenen Aussagen zufolge ehrfurchtsvoll aufschaute, entgegen aller Hinweise nichts von dem Plan gewusst haben, nicht daran beteiligt gewesen sein will?

Mit den 2020 eingestellten Ermittlungen zum Oktoberfestattentat hat sich ein wichtiges Fenster geschlossen, das auch Licht auf die Morde von Erlangen und die ungeklärten Todesumstände der Neonazis Kay-Uwe Bergmann und Uwe Behrendt hätte werfen können.

Ob diese Vergangenheit als abgeschlossen gilt, hängt davon ab, wie sorgfältig, energisch und geduldig auf die Widersprüche und offenen Ansprüche hingewiesen wird. Auf Polizei, Geheimdienste und Justiz ist hier nicht zu vertrauen, wohl aber auf andere: Der Journalist Ulrich Chaussy schützt den Fall seit Jahrzehnten vor dem Vergessen, ebenso die Initiative kritisches Gedenken Erlangen, parlamentarische Anfragen unter anderem der LINKEN oder Archive wie das apabiz in Berlin und A.I.D.A. in München. Sie sind Teil einer andauernden Auseinandersetzung um den nicht abgegoltenen Anspruch der Vergangenheit an die Gegenwart.

Martina Renner

ist stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE und Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im Bundestag.