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|ak 716 | Alltag

Menschliche Inkubatoren

In den USA muss eine hirntote Frau ein Baby austragen, sie ist kein Einzelfall – die Entwicklungen sind ein Weckruf für Deutschland

Von Irina Herb

Man sieht demonstrierende Menschen, die ein Schild hochhalten auf dem steht Forward Together for Abortion Justice.
Foto: Gayatri Malhotra / Unsplash

Dear America: women’s bodies are not state property«, schrieb die Journalistin Tayo Bero vor wenigen Wochen. Der Hintergrund: Im US-amerikanischen Bundesstaat Georgia wird Adriana Smith, eine Schwarze Frau, die im Februar einen Gehirntod erlitt, ohne ihre Einwilligung oder die ihrer Familie, künstlich am Leben gehalten. Warum? Weil sie zur Zeit ihres Todes in der ungefähr neunten Woche schwanger war. In Georgia gilt: Schwangerschaftsabbrüche sind ab der sechsten Woche illegal. 

Adriana Smith ist kein Einzelfall: 2013/14 wurde die in der 14. Woche schwangere Marlise Muñoz nach einem Hirntod (gegen ihren expliziten Willen) am Leben gehalten und erst nach langem Rechtsstreit, ausgefochten durch Familienmitglieder gegen den Staat, sterben gelassen. Im Fall von Susan Michelle Rollin Torres war es hingegen der streng gläubige katholische Ehemann, der 2005 nach ihrem Gehirntod veranlasste, sie bis zur Kaiserschnittgeburt künstlich am Leben zu halten. Sowohl Marlise Muñoz als auch Adriana Smith sind BIPOC. So hallt das Echo von medizinischen Experimenten an unterdrückten Bevölkerungsgruppen nach. Ebenso die systematische Gewalt, mit der versklavte Frauen gezwungen wurden, die nächste Generation von versklavten Menschen zu gebären. Die Autorin Andrea González-Ramírez reflektiert: »We’re Just Human Incubators to Them«. Aus ihrer Sicht werden hier Gesetze nicht falsch ausgelegt. Vielmehr würden sie genauso funktionieren, wie sie sollen: »Make no mistake: These laws are working exactly as intended. Smith’s fate is a feature, not a bug.«

Strafanzeige wegen Fehlgeburt

Zur gleichen Zeit häufen sich in den USA die Fälle, in denen das Aufsuchen medizinischer Hilfe während einer Fehlgeburt zu Anklagen führt. Nachdem beispielsweise Selena Maria Chandler-Scott dieses Jahr bei einer Fehlgeburt den Notruf wählte und ohnmächtig aufgefunden worden war, wurde sie verhaftet. Brittany Watts wurde 2023 nach einer Fehlgeburt von einer Krankenschwester an die Polizei gemeldet. Die 19-jährige indigene Brittney Poolaw hatte 2020 während einer Fehlgeburt medizinische Hilfe gesucht und dem medizinischen Personal im Vertrauen die relevante Information gegeben, dass sie Drogen konsumiert hatte. Daraufhin saß sie 1,5 Jahre ohne gerichtliches Verfahren in Untersuchungshaft, um dann wegen Tötung zu vier Jahren Gefängnis verurteilt zu werden.

Elon Musk, der »Populationskollaps« bedrohlicher findet als die Klimakrise, ist biologischer Vater von etwa 14 Kindern und predigt: »We should teach fear of childlessness.«

Wie González-Ramírez andeutet, sind Zuspitzungen rund um Schwangerschaft (und Schwangerschaftsabbrüche) als Teil eines konservativ bis autoritären politischen Gesamtprojekts zu verstehen, das auf – im Kapitalismus zyklisch auftretende – Reproduktionskrisen reagiert. So haben sinkende Geburtenraten in den USA und anderen Ländern des Globalen Nordens sowohl Regierungen als auch einige Superreiche auf den Plan gerufen. Trump prahlte erst vor kurzem: »You can call me the fertility president.« Elon Musk, der »Populationskollaps« bedrohlicher findet als die Klimakrise, ist biologischer Vater von etwa 14 Kindern und predigt: »We should teach fear of childlessness.« Weniger bekannt ist aber sein vermutlich relevanteres Engagement: Er investiert, zusammen mit anderen Erzkonservativen Superreichen wie Peter Thiel, Millionen in Fertilitätsforschung und -unternehmen. 

Keine Rechtssicherheit

Als das US-amerikanische Verfassungsgericht 2022 das Urteil Roe vs. Wade von 1973 aufhob, wurde damit ein landesweiter Schutz gewisser Abtreibungsrechte aufgegeben. Damit ging eine Absicherung verloren, die wir in Deutschland gar nicht haben, denn hier stehen Schwangerschaftsabbrüche weiterhin im Strafgesetzbuch (§ 218) und sind erst einmal illegal. Auch wenn in bestimmten Fällen (z. B. nach Beratung und innerhalb der ersten zwölf Wochen) ein Abbruch straffrei möglich ist, bleibt er formell rechtswidrig. 

Solche Konstrukte, in denen »bestimmte Voraussetzungen« eine Straffreiheit ermöglichen, sind fragil und von anderen Entwicklungen abhängig. So wurde der LIFE Act, nach dem Adriana Smith auch tot ein Baby austragen muss, schon 2019 beschlossen. Dieses Gesetz wurde aber durch Roe vs. Wade »überdeckt« und entfaltete erst ab 2022 seine volle Wirkung. 

Die in Deutschland geltende Straffreiheit unter »bestimmten Voraussetzungen« ist etwas anderes als ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen. Das bedeutet: Heute ist die Möglichkeit, einen Abbruch durchführen zu lassen, von individuellen Ausrichtungen der Kliniken oder Praxen abhängig – und von der politischen Gesamtlage. Und die kann sich ändern. Der Trend lässt kaum Zweifel: Die Zahl der Praxen und Kliniken, die Abbrüche durchführen, hat sich in den letzten 20 Jahren fast halbiert. Kürzlich erst hat das christliche Klinikum Lippstadt seinem Personal untersagt, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen – selbst außerhalb des Klinikums. Ein Weckruf also für Deutschland, Gesetze zu schaffen, die dem Rechtsruck standhalten.

Irina Herb

beschäftigt sich wissenschaftlich und aktivistisch mit der politischen Ökonomie des (Nicht-)Schwanger Werdens. Zurzeit arbeitet sie an einer Dissertation zu marxistischen Perspektiven auf Reproduktionstechnologien an der Universität Jena.