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Mein Vater, Gastarbeiter und Kommunist

Über ein Leben zwischen Südkorea und Bochum

Von Hae-Lin Choi

Ein Baby und ein Kleinkind sitzen bei einem Mann auf dem Schoß, alle lachen.
Hae-Lin Choi mit ihrem Vater Jung-Kyu und ihrem Bruder, ca. 1980. Foto: privat

Letzte Woche starb mein Vater nach langer Krankheit. Ich bin dankbar, dass ich mich vor zwei Wochen von ihm verabschieden konnte, da ich jetzt wegen der Reisebeschränkungen nach Europa nicht zu seiner Beerdigung kann. Wir hatten eine schwierige Beziehung, und doch war er ein wundervoller, erstaunlicher Mensch, der ein unglaubliches Leben gelebt und mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin.

Choi, Jung-Kyu wuchs im Nachkriegs-Südkorea der 1950er Jahre auf, der Zeit vor der Industrialisierung; die Familie lebte auf dem Land, in bitterer Armut. Sein Vater war ein Spieler und beging Selbstmord, als mein Vater noch ein Kind war. Er ließ meine Großmutter und ihre acht oder mehr Kinder mit nichts zurück. Mein Vater verbrachte seine Kindheit an eine Leine mit seinen Geschwistern geknotet, die seine Mutter hinter sich herzog, während sie auf den Reisfeldern arbeitete. Er besuchte gerade mal vier Jahre die Grundschule und fand schließlich als Gastarbeiter seinen Weg nach Deutschland.

Nachdem er in den Kohlebergwerken und im Stahlwerk gearbeitet hatte, fand er eine Stelle in der inzwischen stillgelegten Autofabrik von Opel in Bochum. In Deutschland lernte er meine Mutter kennen, und bald darauf wurden ich und mein Bruder Hunee geboren. Das Opelwerk hatte damals einen kommunistischen Betriebsrat, und durch einen fortschrittlichen Pastor, der Gastarbeiter*innen half, Deutsch zu lernen, erfuhr mein Vater von den Gewerkschaften und davon, wie die Arbeiter*innen des Werks dank der Gewerkschaft eine Stimme am Arbeitsplatz hatten. Es war sein Aha-Moment, und er wurde Kommunist.

Die Autorin und ihr Vater um 1980. Foto: privat

In Korea erzwang eine Reihe von Militärdiktaturen die rasche Industrialisierung des Landes auf dem Rücken der Arbeiter*innen – und als in den 1980er Jahren ein weiterer Militärputsch zu einem blutigen Massaker an Arbeiter*innen und Student*innen führte, wurde meine ganze Familie zur Aktivistenfamilie. Wir protestierten gegen den Putsch, wir demonstrierten und agitierten. Mein Vater organisierte viele eindrucksvolle Gruppen und Projekte in der jungen koreanischen aktivistischen Community in Deutschland, darunter politische Theaterstücke, in denen mein Bruder und ich als Kinder mitspielten.

Er verließ uns, fühlte sich schlecht und kam wieder zurück – und folgte dann erneut dem Ruf der Bewegung, zumal er in Korea ein Arbeiterführer war, aber zu Hause nur ein arbeitsloser Gastarbeiter, den niemand respektierte.

Zur gleichen Zeit begann sich in Korea eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung im Untergrund als Teil des Widerstands gegen die Militärdiktatur zu entwickeln, und je mehr mein Vater über radikale Gewerkschaftsarbeit in Deutschland lernte, desto stärker wurde das Gefühl, dass er die Bewegung in seinem Heimatland unterstützen musste. Ende der 1980er Jahre traf er die Entscheidung, uns zu verlassen, um sein Leben der Arbeiterbewegung in Südkorea zu widmen. Das tat er insgesamt vier Mal. Er verließ uns, fühlte sich schlecht und kam ein paar Jahre später zurück – und fühlte dann erneut den Ruf der Bewegung, zumal er in Korea ein großer Arbeiterführer war, aber zu Hause nur ein arbeitsloser Gastarbeiter, den niemand respektierte.

Als Korea seinen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg erlebte, begann die Arbeiterbewegung in der Zeit des sogenannten »Social Movement Unionism« (Gewerkschaft als soziale Bewegung), ähnlich wie in Südafrika und Brasilien, große Fortschritte zu machen. Bald kamen Arbeiter*innen aus ärmeren Ländern Südostasiens wie Nepal, Bangladesch usw. nach Korea – und wurden dort wie Dreck behandelt. Die Gewerkschaftsbewegung reagierte so, wie sie immer reagiert: extrem protektionistisch und feindselig.

Foto: privat

Mein Vater war entsetzt, dass die Bewegung, die er mit aufgebaut hatte, kein Gefühl der Solidarität mit eingewanderten Arbeiter*innen hatte – zumal er in Deutschland selbst einer gewesen war –, und auch wenn er in Deutschland seine Erfahrungen mit Rassismus gemacht hatte, hatte ihn die Gewerkschaft doch willkommen geheißen und aufgenommen. Hier hatte er Solidarität erfahren.

Also begann er, eingewanderte Arbeiter*innen zu organisieren, half bei der Gründung des »Gemeinsamen Ausschusses der Arbeitsmigranten« (Joint Committee for Migrant Workers) und führte einen Hungerstreik an, um für Gleichbehandlung zu kämpfen. Er legte sich immer wieder mit der traditionellen Gewerkschaftsbewegung an und wurde schließlich von ihr fallengelassen.

Zu dieser Zeit hatte ich das Gymnasium abgeschlossen, war selbst eine junge sozialistische und antifaschistische Aktivistin geworden und verbrachte den Sommer vor dem Beginn meines Studiums mit ihm in Korea. Einige Jahre später besuchte ich ihn erneut für sechs Monate und machte ein Praktikum am Korean Institute for Labor Studies and Policies. Ich lernte so viel über ihn. Als Aktivistin bewunderte ich ihn – und als Tochter versuchte ich, ihn zu verstehen. Nachdem er seine Berufung gefunden hatte, fand er keine Antwort mehr auf die Frage, wie man sowohl Vater als auch Freiheitskämpfer sein kann, ein Jemand und ein Niemand.

Als er älter wurde, schloss er sich einer Gruppe ehemaliger Gewerkschaftsführer an, Männer wie er, die ihre Familien verlassen hatten, um ihr Leben der Bewegung zu widmen, einer Alles-oder-nichts-Bewegung zu ihrer Zeit – und die nun alt waren, ohne Familie, ohne Geld und Absicherung. Sie gründeten eine Kommune auf dem Land und begannen, Landwirtschaft zu betreiben. Und sie boten Gewerkschaftsfreizeiten an.

Foto: privat

Aber klar, wenn man einen Haufen Linker zusammenwirft, fangen sie irgendwann an, sich über Politik zu streiten – außerdem wurde es im Winter wirklich sehr kalt –, und so kam er über die Wintermonate zurück nach Deutschland. Während eines dieser Aufenthalte erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nie wirklich erholte und der schließlich zu seinem Tod führte.

Er war ein Mensch voller Fehler und Schwächen, wie wir alle. Aber wenn man bedenkt, wo er herkam, hat er ein außergewöhnliches Leben gelebt und unglaublich viel erreicht. Und obwohl wir in den vergangenen Jahren eine sehr schwierige Beziehung hatten und uns auseinandergelebt haben, habe ich meinen Frieden mit ihm gemacht. Ich bin unglaublich stolz auf ihn, und ich weiß, dass ich ihn auch mehr als stolz gemacht habe. Ich bin froh, dass er Dan und die Kinder kennengelernt hat, und ich bin froh, dass ich mich von ihm verabschieden und ihm sagen konnte, dass wir ein gutes Leben haben. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass es in den Vereinigten Staaten einen echten Sozialisten gibt, der für das Präsidentenamt kandidiert – und dass Leute ihn tatsächlich wählen!

Seine Beerdigung wird diesen Freitag stattfinden, er wird unter einem Baum in meiner Heimatstadt Bochum begraben werden.

Foto: privat

Ich bin dankbar für all die Liebe und Unterstützung, die ich in diesen schwierigen Zeiten erhalten habe. Und ich kann irgendwie nicht glauben, dass gerade, als ich dachte, nach der Beerdigung, nach dem Umzug werde ich aus diesem Loch, in dem ich seit Wochen stecke, herauskriechen – nur um mich selbst, uns alle, in einer schrecklichen globalen Gesundheitskatastrophe und noch mehr Leid und Herzzerreißen wiederzufinden. Aber ich finde Trost in dem Wissen, dass wir in diesen Zeiten füreinander da sind.

Hae-Lin Choi

Hae-Lin Choi ist in Bochum aufgewachsen und lebt seit mehr als zehn Jahren mit ihrer Familie in Brooklyn, New York, wo sie als Gewerkschafterin für die Communications Workers of America (CWA) arbeitet.

Den Beitrag veröffentlichte Hae-Lin Choi am 17. März auf Englisch bei Facebook.