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|ak 656 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Mehrgenerationenkonzept

Von Frédéric Valin

Es heißt nicht mehr Heim, es heißt gemischte Wohngruppe. Ein Haus, acht Gruppen, zwischen sechs und acht Plätze pro Gruppe. Die letzten Jahrzehnte war das Konzept, die Leute vom Einzug bis zum Tod dort verbleiben zu lassen. Zumindest theoretisch: Praktisch ist natürlich niemand von uns palliativ ausgebildet, außerdem fehlen notwendige Gerätschaften. Also sterben die Leute natürlich trotzdem im Krankenhaus. Wie normale Leute auch. Sehr inklusiv also. Sorry for sarcasm.

Die Konsequenz: 30jährige, die mit 85jährigen zusammenleben; Teenager, deren Mitbewohner*innen im Sterben liegen. Völlig unterschiedliche Interessen, verschiedene Bedürfnisse. Menschen, die sich überhaupt nicht leiden können, haben sich miteinander zu arrangieren.

Das seien halt Mehrgenerationengruppen, hieß es, fast schon mit Modellcharakter. Das ist Quatsch. Es fällt immer was hinten runter.

In dem Fall Betreuung. Pflege geht immer vor. Wenn jemand eingekotet hat, ist das immer Prio 1. Körperliche Sauberkeit wird fortwährend gegen seelische Entwicklung ausgespielt. (Ist auch messbarer, und einfacher auch.)

Jetzt ist eine neue Bereichsleitung verantwortlich, es soll ein neues Konzept geben. Die Gruppen sollen neu zusammengestellt werden; Leute, von denen man glaubt, sie passten zusammen, sollen jetzt zusammenleben. Ich bin grundsätzlich dafür. Insbesondere gefällt mir die Idee, dass M. in eine Gruppe kommt mit Menschen, die sprachlich ungefähr auf seiner Ebene sind. Er langweilt sich oftmals mit seinen Mitbewohner*innen, weil ihm der Austausch fehlt. Trotzdem gibt es natürlich keine Garantie, dass er das selbst möchte, deswegen habe ich mal förmlich nachgefragt: Wie lang geht das Probewohnen? Wie lang haben die Leute, um festzustellen, ob das was für sie ist?

Erste Reaktion: welches Probewohnen? Zweite Reaktion: Ja, okay, verstehe, also so zwei Wochen würden wir das alte Zimmer schon freihalten. Dann muss aber klar sein, ob das was ist. Weil: Kosten.

Zwei Wochen! Jahrelang hat man den Leuten jede Entscheidungskompetenz abtrainiert, und jetzt sollen sie von heute auf morgen entscheiden, ob sie ihren Lebensmittelpunkt umsetzen wollen. Weil: Ist halt grade Platz. Wir sprechen da von Leuten mit psychischen Diagnosen, Schizophrenie, Psychosen, Angststörungen. Plus eingeschränkte Lernplateaus, das heißt: noch mehr Schwierigkeiten, Dinge zu verarbeiten. Ich habe drei Monate gebraucht, um herauszufinden, wie es mir in der neuen WG gefällt. Und M.? Neue Wohnung, neue Mitbewohner*innen, neue Betreuer*innen, neue Anforderungen, das soll er in zwei Wochen überblicken?

Also wer entscheidet für sie, was gut für sie ist? Das letzte Wort haben die gesetzlich bestellten Betreuer*innen. Die sind aber selten nah genug dran am Gruppenalltag, um das beurteilen zu können oder zu wollen. Also fragen sie die Betreuer*innen auf den Wohngruppen, uns also.

Das Problem ist: Betreuer*innen haben selten ein Interesse, dass Bewohner*innen ausziehen, weil: Wer weiß, wer stattdessen kommt. Jemand mit Weglauftendenz, schwerer Epilepsie? Jemand, der*die scheiße ist? Besser alles so lassen, wie es ist. Da weiß man, was man hat.

Und das zweite Problem: Gesetzlich bestellten Betreuer*innen geht das ähnlich. Bei fitten Leuten sind das oft die Eltern. Die haben ihre Kinder in der Krise abgegeben, und deswegen ist ihre Priorität Krisenvermeidung. Ein Umzug aber ist keine Krisenvermeidung. Und dann noch der ganze Aufwand! Logistisch, behördlich! Besser alles so lassen und so weiter.

Man müsste die Leute also vorbereiten. Stattdessen gab’s ne simple Mitteilung: Blabla neue Gruppe blabla Ihr Kind blabla mag. Das in der Vorweihnachtszeit, wenn das Stresslevel bei allen natürlich knapp vor Springflut liegt. Kurz vor Beginn eines Jahres, das wegen des Bundesteilhabegesetzes ohnehin viele administrative Veränderungen bringen wird, über die aber keine*r Genaueres sagen kann.

Aber die Baumaßnahmen sind halt bald abgeschlossen, wir brauchen schnelle Entscheidungen! Natürlich hagelt es jetzt Absagen. Immerhin haben wir alles versucht, wird sich die Leitung sagen und dann die Plätze nach altem Prinzip vergeben. Das heißt: Neueinzüge zusammenwürfeln und ein Mehrgenerationenkonzept behaupten. Genug Interessent*innen gibt es ja.

Und die Leute selbst? Tja. Keine*r von denen weiß, dass es die Möglichkeit eines Umzugs überhaupt gibt. Fast könnte man meinen, um sie sei es nie gegangen.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schrieb er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.