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Walser mit Rechtsdrehung

Er war ein Stichwortgeber rechter Geschichtspolitik – nun ist Martin Walser gestorben

Von Sebastian Wehrhahn

Zu sind auf dieser Nahaufnahme die Blöcke des Holocaust-Mahnmal in Berlin. Menschen oder Häuser sieht man nicht
Es war ein Tabu-Bruch als Björn Höcke 2017 vom »Denkmal der Schande« sprach. Rund zwanzig Jahre vorher hatte der Schriftsteller Martin Walser den geplanten Bau als »unaufhörliche Präsentation unserer Schande« kritisiert: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Foto: Sander Wapstra/Flickr, CC BY 2.0

Der NDR schreibt ein »Loblied auf die alten, weißen Männer«, der Spiegel fragt »Wer sind wir ohne sie?«, die Zeit würdigt »eine Jahrhundertgestalt«: Der Schriftsteller Martin Walser ist gestorben, und das Feuilleton trauert. Dabei bleiben wesentliche Aspekte seines Wirkens unterbelichtet.

Die Literaturwissenschaftlerin und Holocaustüberlebende Ruth Klüger nannte ihn den »Inbegriff des germanischen Intellektuellen«, mit seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels löste er 1998 außerdem eine der wichtigsten und folgenreichsten erinnerungspolitischen Debatten aus.

Es war der 11. Oktober 1998, als der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Martin Walser in der dicht mit Prominenz aus Politik und Kultur besetzten Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis auszeichnete. In seiner Dankesrede griff Walser unter anderem in die damals erregt geführte Debatte um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ein. Das Spektrum derer, die so ein Denkmal im Zentrum Berlins verhindern wollten, reichte damals von der extremen Rechten bis weit in die CDU hinein. Berlins Regierender Bürgermeister Diepgen (CDU) war gegen das Mahnmal und wollte verhindern, dass Berlin zur »Hauptstadt der Reue« gemacht werde.

Walser knüpfte an diese Debatte an und wandte sich nicht nur gegen den Denkmal-Entwurf des Architekten Eisenman als »Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum«. Er stellte die Auseinandersetzung um die Errichtung des Denkmals auch in einen größeren Kontext. Darin sei die »unaufhörliche Präsentation unserer Schande« Teil der »Instrumentalisierung (…) zu gegenwärtigen Zwecken«. Auschwitz werde in dieser Instrumentalisierung »jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule«, mit dem die »Meinungssoldaten (…) den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen«.

Walsers Botschaft traf auf offene Ohren. Am Ende seiner Rede erhob sich fast das gesamte Publikum und bedachte den Autor mit Applaus. Sitzen blieben der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis und seine Frau Ida Bubis. Ihnen war sofort klar, worum es in Walsers Rede tatsächlich ging und warum es sie auf besondere Weise betraf.

Der Schriftsteller bediente das klassische Repertoire der Erinnerungsabwehr, deren Antisemitismus meist darin besteht, Jüdinnen und Juden vorzuwerfen, dass sie – durch ihre Existenz, ihre Religionsausübung, ihre Ansichten usw. – an die faschistische deutsche Vergangenheit erinnern und damit einer positiven Identifikation mit Deutschland entgegenstehen.

In den auf die Preisverleihung folgenden Wochen setzte sich die Debatte ähnlich fort, wie sie in der Paulskirche begonnen wurde: Walser erhielt großen Zuspruch, und Ignatz Bubis blieb weitgehend allein.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) unterstützte Walsers Positionen: »Ein Dichter darf so etwas. Ich dürfte das nicht.« Frank Schirrmacher und die FAZ, die erst über den antisemitischen Roman »Tod eines Kritikers«, der sich gegen Marcel Reich-Ranicki richtete, mit Walser brachen, bejubelten seine Paulskirchenrede und sein »Abräumen von Worthülsen, Meinungsschutt, überhaupt von fremder und unfreier Rede«. Und etwas später: »Die Walser-Bubis-Kontroverse zeigt, dass die Zeit der Vormundschaft über Deutschland vorbei ist.«

Im Spiegel sprang Verleger Rudolf Augstein Walser bei und behauptete, »dass dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neuformierende Deutschland gerichtet« sei. Er griff damit auch Walsers Vorwurf der Instrumentalisierung auf und ergänzte, wer dahinterstecke: »die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand«. Natürlich vergaß Augstein auch nicht zu erwähnen, dass Ignatz Bubis ein »frühere(r) Frankfurter Baulöwe« sei.

Als Ignatz Bubis seinen öffentlich erhobenen Vorwurf, Walser sei ein geistiger Brandstifter, zurücknahm und sich dafür bei Walser entschuldigte, nahm dieser die Entschuldigung nicht an.

»Die Fratze unserer eigenen Geschichte«

Für das Verständnis der Auswirkungen von Walsers Rede und der anschließenden öffentlichen Debatte ist eine weitere Diskussion wichtig. Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1999, beteiligte sich Deutschland im Rahmen des Nato-Einsatzes gegen Jugoslawien zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an einem Angriffskrieg. Dieses militärische Engagement wurde öffentlich auch durch deutliche Bezüge auf die deutsche Vergangenheit gerechtfertigt. So argumentierte der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer: »Wir haben immer gesagt: ›Nie wieder Krieg!‹ Aber wir haben auch immer gesagt: ›Nie wieder Auschwitz!‹«. Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) sprach von einem »Konzentrationslager« im Norden von Prishtina und meinte in den serbischen Verbrechen an der kosovo-albanischen Bevölkerung »die Fratze unserer eigenen Geschichte« zu erkennen.

Die Diskussion, die Walser auslöste, war mehr als eine Schlussstrichdebatte.

Der Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen ist in diesem Zusammenhang vor allem deshalb relevant, weil sie während der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte bis zu diesem Punkt der zentrale Grund waren, der – in Deutschland, aber vor allem außerhalb – gegen deutsche militärische Auslandseinsätze sprach. Für die außenpolitischen Ambitionen Deutschlands war die deutsche Vergangenheit in erster Linie Hemmschuh. Das änderte sich erst unter der 1998 gewählten rot-grünen Bundesregierung. Helmut Kohl, den Gerhard Schröder nach 16-jähriger Amtszeit als Bundeskanzler ablöste, wäre es schlichtweg unmöglich gewesen, mit einem dergestalt schamlosen und offensiven Bezug auf die deutschen Verbrechen eine deutsche Kriegsbeteiligung zu begründen.

Unter Rot-grün beteiligte sich Deutschland nicht trotz, sondern wegen Auschwitz am Krieg. Die nationalsozialistische Geschichte wurde zum Ausweis der Expertise in Sachen Völkermord etikettiert.

Die Rede Walsers und das in ihr ausgedrückte Bedürfnis danach, nichts mehr von den eigenen Verbrechen hören, lesen oder sehen zu müssen, weil jene, »die mit solchen Sätzen auftreten (…) uns wehtun« wollen, steht nur scheinbar im Widerspruch zu der Indienstnahme der Erinnerung für die außenpolitischen Interessen der Bundesregierung.

Die Diskussion, die Walser auslöste, war mehr als eine Schlussstrichdebatte. Sie war eine Auseinandersetzung, in der das politisch-kulturelle Establishment seine Deutungshoheit gegen die Opfer und deren Nachkommen durchgesetzt hat. Die Kritik an einer vermeintlichen »Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken« erwies sich als Ärger darüber, dass die unterstellten Zwecke nicht die eigenen waren, und bereitete einer Erinnerungspolitik den Weg, die zwar unbestreitbare Vorteile gegenüber den Jahrzehnten des Beschweigens und Leugnens aufweist, die aber dessen ungeachtet an diesen eigenen Zwecken ausgerichtet ist.

Der Rückblick auf diese mehr als 20 Jahre zurückliegende Debatte ist noch aus einem weiteren Grund erkenntnisreich. Die unverhohlen antisemitischen Bilder und Zuschreibungen, mit denen damals in den prominentesten Medien hantiert wurde, würden heute vermutlich ausschließlich in Organen der extremen Rechten veröffentlicht werden. Ein Blick auf die empirische Antisemitismusforschung seit der Gründung der Bundesrepublik zeigt aber, dass diese Entwicklung weder Kontinuität bedeutet noch ein Garant dafür ist, dass die öffentliche Tabuisierung bestimmter antisemitischer Denkfiguren endgültig ist.

Antisemitische Einstellungen haben in den vergangenen 70 Jahren sowohl ab- als auch zugenommen, verschwunden sind sie dabei nie. Vielmehr sind sie ein zwar variabler, aber beständiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft und der sogenannten politischen Mitte. Je nach Umfrage und der Formulierung der Fragen bewegt sich die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen in der Regel zwischen 20 und 30 Prozent.

Dabei ist die Kommunikation antisemitischer Einstellungen starken Konjunkturen und dem, was als sozial erwünscht betrachtet wird, unterworfen. Das wiederum verweist auf die Bedeutung öffentlicher Debatten und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen insgesamt. Eine Sicherheit, dass Antisemitismus nicht auch in seiner unverhohlenen Form wieder im Mainstream ankommt, gibt es nicht.

Sebastian Wehrhahn

studierte Philosophie und ist Referent der Linksfraktion im Bundestag für Rechtsextremismus und Antifaschismus.