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|ak 669 | Geschichte

Luxus der Armen

Kristin Ross schreibt in ihrem Buch über die Aktualität der Pariser Kommune

Von Gerhard Hanloser

Die Utopie bleibt nach der Räumung der Barrikaden der Pariser Kommune. Foto: unbekannter Autor/Wikimedia Commons, CC0 1.0

Die Pariser Kommune jährt sich diesen Monat zum 150. Mal. Auch ein konservativer Zeitgenosse wie Sebastian Haffner erkannte Mitte der 1980er Jahre die Bedeutung des 72 Tage bestehenden freien Paris: »Zum ersten Mal« ging es »um Dinge, um die heute in aller Welt gerungen wird: Demokratie oder Diktatur, Rätesystem oder Parlamentarismus, Sozialismus oder Wohlfahrtskapitalismus, Säkularisierung, Volksbewaffnung, sogar Frauenemanzipation – alles das stand in diesen Tagen plötzlich auf der Tagesordnung«.  Für Leninist*innen konnte die Pariser Kommune nur »Vorgeschichte« sein, ein Ereignis, das zwar die »Diktatur des Proletariats« in erreichbare Nähe gerückt habe, allerdings an der Machtfrage gescheitert sei. Zu sehr wären die Kommunard*innen von den Ideen des frühen Anarchismus geprägt gewesen. Außerdem hätten die Kommunard*innen gezögert, sich der Staatsbank zu bemächtigen. Karl Marx schrieb in einem Brief vom April 1871 an  Louis Kugelmann, »Gutmütigkeit« und »Skrupulosität« hätten die »Himmelstürmer« der Kommune davon abgehalten, brutale, aber doch notwendige Schritte zu gehen.

Andere werden nicht müde, die  Kommune und ihr blutiges Ende als »Tragödie« und trauriges Scheitern darzustellen. Tatsächlich massakrierten die siegreichen Truppen der Thiers-Regierung Tausende von Kommunard*innen, es reichte aus, vom Schießpulver geschwärzte Hände oder gerötete Schultern vom Rückstoß der Gewehre zu haben. Die Verfolgung und Ermordung war ein solches Massaker, dass sich auch Marx sprachlich nicht mehr zügeln konnte und die Konterrevolutionäre mit wüsten Beschimpfungen in seinen Texten überzog. So wurde Marx unter Umständen mit der Pariser Kommune der Klassenhass gelehrt. Den Herren von Versailles stand das proletarische Multiversum von Paris gegenüber, die »Kanaille«, die Proletarisierten, die sich mal als Näher*innen, mal als Prostituierte verdingten, ohne sich bürgerliche, Moralvorstellungen zu unterwerfen, war voller Hass für das Bürgertum.

Kristin Ross wirft einen ganz anderen Blick auf den Pariser Aufstand. Ihr geht es um die Schönheit eines neuen Gesellschaftsentwurfs.

Die New Yorker Literaturwissenschaftlerin Kristin Ross wirft einen ganz anderen Blick auf den Pariser Aufstand. Ihr geht es um die Schönheit eines neuen Gesellschaftsentwurfs. In ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Buch »Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune« bürstet sie die Geschichte gegen den Strich, um einen ökosozialistischen Ausblick für heute zu gewinnen. In »Der Achzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« hatte Marx nicht zuletzt die Bäuerinnen und Bauern deswegen als »dumpf verschlossenen« Sack Kartoffeln bezeichnet, weil sie sich schnell auf die Seite der Konterrevolution hatten ziehen lassen. Spätere Marxist*innen begründeten damit ihre strikte Industrialisierungspolitik, ohne Rücksicht auf bäuerliche Interessen zu nehmen. Nach Ross hätte Marx stattdessen nach der Kommune ein neues Interesse an der Bauernschaft gezeigt. Marx habe durch die Pariser Kommune gelernt, Beziehungen weiter zu fassen: von der Stadt bis auf das französische Land und schließlich bis auf die außereuropäische Welt und ihre Landbevölkerung. Damit sprengt Ross freilich die marxistische Interpretation der Pariser Kommune und gesteht Marx eine theoretische Weitsicht zu, die dieser eher nicht hatte. Im Grunde folgt Ross eher einer Revolutionsvorstellung, wie sie bei Nestor Machno und den anarchistisch geprägten linken Sozialrevolutionären zur Zeit der Russischen Revolution vorherrschend war. Wenig erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass Ross betont, dass die Ideenwelt der Kommune in einem anarchistischen Kommunismus kondensiere, in dem alles allen gehöre.

Dafür hat sie drei Gewährsmänner gefunden, deren schriftliche Erzeugnisse sie als organische theoretische Ausdrucksformen der Pariser Kommune bezeichnet: William Morris, Peter Kropotkin und Élisée Reclus. Dass Ross diese drei herauspickt, folgt der politischen Logik ihrer Geschichtsschreibung. Denn alle drei verband grenzensprenger Internationalismus, anthropologischer Optimismus und weltstürzende Großzügigkeit, die sich tatsächlich mit »Luxus für alle« zusammenfassen lassen. Dennoch irritiert, dass bekannte Frauen, die in der Kommune eine entscheidende Rolle gespielt haben wie Elisabeth Dmitrieff, André Léo oder Louise Michel bestenfalls gestreift werden. Damit wird die Tatsache verdoppelt, dass leider auch in der räteformigen Stadtherrschaft Frauen von politischen Ämtern ausgeschlossen blieben.

Doch Ross zeigt in ihrer aktivistischen Geschichtsschreibung, dass die Kommune einen Internationalismus lebte und Menschen ohne französischem Pass sogar wichtige politische Ämter übertrug. Im Gegensatz zu einem (post-kolonialen) französischen Republikanismus, der sich als universell selbst setzt und Differenz nicht erträgt, habe sich eine »universelle Republik« mit diversen politischen Aushandlungsformen konstituiert, an der sich alle hätten beteiligen können. Ebenso macht sie auf Versuche einer praktischen Überwindung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit aufmerksam, wie die zwischen »hoher« Kunst und Kunsthandwerk. Das Leben sollte attraktiver, schöner und experimenteller werden, so dass Kunst, Ästhetik und Arbeit wahrlich verfließen konnten, wie Ross einem anarchischem Post-1968er-Utopismus folgend sowohl für die Kommune von 1871 als auch für die Gegenwart reklamiert.

Welcher Art der Geschichtsschreibung folgt die Literaturwissenschaftlerin? Sie ist sicherlich von einer marxistischen politischen Geschichtsschreibung weit entfernt, allerdings auch von einer empirischen Sozialgeschichte. Am meisten erinnert die Geschichtenerzählung von Kristin Ross an den »Gegen-Mythos« der linken Sozialhistoriker Peter Linebaugh und Marcus Rediker, die kämpferische Geschichtsmythen von unten in neue emanzipatorische Kämpfe einspeisen wollen. Darin ist die Lektüre dieses schön geschriebenen Buches unheimlich anregend.

Gerhard Hanloser

hat zuletzt »Identität & Politik. Kritisches zu linken Positionierungen« beim Mandelbaum Verlag herausgegeben. Zum Antisemitismus veröffentlichte er 2003: »Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute«.

Kristin Ross: Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune (Übersetzt aus dem Englischen von Felix Kurz). Matthes & Seitz, Berlin 2021. 203 Seiten, 20 EUR.