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|ak 688 | Alltag |Kolumne: Jawoll, euer Ehren

Sticky Gewaltbegriff

Von Moritz Assall

Eine Tube Sekundenkleber.
Die Letzte Generation hat der Redewendung, jemandem eine zu kleben, eine ganz neue Bedeutung gegeben. Foto: Omegatron/Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Im November wurde ein junger Aktivist der Letzten Generation, der sich an Straßen geklebt hatte, vom Amtsgericht Berlin Tiergarten verurteilt. Das Urteil ist eines von sehr vielen gegen solche Blockadeaktionen, fand aber einigen medialen Widerhall, denn verteidigt wurde der Angeklagte von Gregor Gysi. Der plädierte auf Freispruch und appellierte an das Gericht: »Sie sollten den Mut haben, ihn freizusprechen. Dasitzen ist keine Gewalt. Wir können nicht einfach sagen, Gewalt ist keine Gewalt. Das geht einfach nicht.«

Handelt mit Gewalt, wer sich einfach nur hinsetzt oder festklebt? Hinter dieser Frage verbirgt sich ein jahrzehntelanger juristischer Streit, dessen Hintergrund soziale Proteste und Aktionen zivilen Ungehorsams in der BRD von den 1960er Jahren bis heute waren und sind: Sitzblockaden gegen Pershing-II-Raketen, gegen Castortransporte, gegen Nazis, gegen Demonstrationsverbote. Und so kommt es, dass die maßgeblichen Entscheidungen zu dieser Rechtsfrage inoffiziell nach den sozialen Protesten benannt sind, die durch sie kriminalisiert wurden, sie tragen Arbeitstitel wie »Mutlangen«, »Wackersdorf« oder »Kurdendemo«.

Das Verfahren schrieb Rechtsgeschichte, denn erstmals wurde bloßes Hinsetzen auf einer Straße von Gerichten als »Gewalt« angesehen.

Den Anfang machte dabei ironischerweise eine Aktion, für die ein Mitglied des Jugendverbands der CDU verurteilt wurde. Klaus Laepple, damals AStA-Vorsitzender, hatte 1966 Sitzblockaden gegen die Fahrpreiserhöhungen der Kölner Verkehrsbetriebe angezettelt und wurde wegen Nötigung mit »geistiger Gewalt« verurteilt. Das Verfahren schrieb Rechtsgeschichte, denn erstmals wurde bloßes Hinsetzen auf einer Straße von Gerichten als »Gewalt« angesehen. Wie unbedingt der Wille zur Bestrafung war, lässt sich aus dem Urteil unschwer herauslesen, etwa wenn dort wutschnaubend ausgeführt wird: »Die Anerkennung eines Demonstrationsrechts (…) liefe auf die Legalisierung eines von militanten Minderheiten geübten Terrors hinaus.« Erst Jahrzehnte später wurde der im Laepple-Urteil erfundene »geistige Gewaltbegriff« vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig kassiert, denn bloßes Hinsetzen ist eben keine Gewalt, was nun wirklich keine intellektuell besonders waghalsige Feststellung ist.

Doch da fanden die Strafgerichte einen argumentativen Kniff, um ihre Verurteilungspraxis nicht ändern zu müssen. Sie erfanden die »Zweite-Reihe-Rechtssprechung«. Hiernach begehen Teilnehmer*innen einer Sitzblockade auf der Straße zwar keine Nötigung gegen die Autofahrer*innen in erster Reihe, denn die könnten ja theoretisch mit ihren Autos einfach über die Blockierer*innen drüberfahren und seien darum nicht gewaltsam am Weiterfahren gehindert. Machen sie ja aber nicht, und wenn dann hinter dem ersten Auto deshalb jemand nicht weiterfahren kann, dann sei das gewissermaßen so, als hätten die Teilnehmer*innen der Sitzblockade mit dem ersten anhaltenden Auto die Straße gewaltsam blockiert, denn über das Auto in erster Reihe können die in zweiter Reihe ja nicht einfach drüberfahren, nicht mal mit einem SUV. Und das sei dann Gewalt, also Nötigung, also strafbar. Total logisch.

So werden Teilnehmer*innen von Sitzblockaden von deutschen Gerichten seit 1966 bis heute verurteilt. Vorsitzender Richter im Laepple-Verfahren und damit geistiger Vater dieses Stücks deutscher Rechtsgeschichte war übrigens Paulheinz Baldus, zuvor Wehrmacht-Reserveoffizier, NSDAP-Mitgliedsnummer 5.628.271, der seine steile juristische Karriere als NS-Funktionär im Reichsministerium der Justiz begann und ohne erkennbare Brüche 1971 als Richter am Bundesgerichtshof beendete. Nach seinem Tod im selben Jahr erschien in der Juristischen Rundschau ein Nachruf, in dem seine NS-Vergangenheit mit keiner Silbe erwähnt wird, er aber als das »juristische Gewissen« des BGH-Strafsenats gerühmt und seine »Kunst, Verworrenes aufzulösen und es einer einfachen Betrachtung zugänglich zu machen« gefeiert wird – juristische Kunst, die bis ins Verfahren des Amtsgerichts Tiergarten im November fortwirkte. Der Aktivist wurde, wie zu erwarten, wegen Nötigung verurteilt. Gregor Gysi hat Rechtsmittel angekündigt. Auch wenn mir persönlich diese Klebeaktionen politisch nicht einleuchten: Ich wünsche beiden alles Gute.

Moritz Assall

ist Jurist und Kriminalsoziologe. Er arbeitet für die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.