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|ak 716 | Kultur

Appell gegen die Assimilation

In der Shakespeare-Kinoadaption »Kein Tier. So Wild« greift statt Richard III Rashida nach der Macht – und demontiert das deutsche Schreckensbild vom Berliner Clanmilieu

Von Henrik Schnittger

Eine Frau mit dunkel geschminkten Augenringen in einem schweren Morgenmantel sitzt auf einem Sessel in einer schwer zu definierenden Landschaft oder einem Zimmer
Großer Machtwille, wenig Skrupel: Rashida York (Kenda Hmeidan) will nach oben. Foto: © Lukasz Bak / Port au Prince Pictures

Ein Mädchen in einer unwirklichen, kargen Ebene – in der Ferne schlagen Bomben ein – setzt sich gegen einige Altersgenossinnen im Kampf um einen Kranz (oder ist es eine Krone?) durch und reckt diesen schließlich triumphierend in die Höhe. Mit dieser Reimagination von Stanley Kubricks legendärer Eröffnungsszene von »2001: A Space Odyssey« beginnt Burhan Qurbanis Reimagination von Shakespeares »Richard III«: »Kein Tier. So Wild«.

Wie schon in seinem Vorgängerfilm »Berlin Alexanderplatz« aktualisiert und politisiert Qurbani einen Stoff der westlichen Hochkultur, indem er ihn in die Gegenwart verlegt und Geflüchtete sich diesen zu eigen machen lässt. Es sind Geschichten über Außenseiter*innen, die ihn faszinieren. Als Sohn von aus Afghanistan nach Deutschland geflüchteten Eltern kenne er dieses Gefühl nur zu gut, wie er beim Publikumsgespräch nach einer Vorstellung in Berlin-Neukölln betont. Auch Shakespeares blaublütiger, buckliger Richard aus dem Hause York im England des 15. Jahrhunderts ist so eine Figur. In »Kein Tier. So Wild« ist es stattdessen die kriegstraumatisierte Rashida (Kenda Hmeidan) im Berlin der Gegenwart. Wie in der Eingangsszene als Mädchen wird Rashida sich auch als erwachsene Frau die Krone holen – und das im Laufe der knapp zweieinhalb Stunden hinterlistig und vor nichts zurückschreckend. Ob nun Mitglieder der verfeindeten Lancasters, mit denen die Yorks doch eigentlich gerade Frieden geschlossen hatten, der eigene Bruder oder ihre engste Vertraute: Niemand ist vor ihr sicher.

Die Königshäuser im migrantischen Berlin der Gegenwart sind Clans. Marodierende, das schöne deutsche Rechtssystem aushöhlende Clans – das Thema ist aus den Medien hinlänglich bekannt und von rechts bis weit in die sogenannte Mitte eine beliebte Projektionsfläche, um rassistische Politik zu rechtfertigen oder ganze Bevölkerungsgruppen als kriminell zu stigmatisieren. Auch »Kein Tier. So Wild« beschwört dieses leitkultur-deutsche Schreckensbild herauf, aber löst sich sofort von den Zuschreibungen und kehrt gewissermaßen den Spieß um. Beim Publikumsgespräch betont Qurbani, wie wichtig ihm das Beherrschen der Sprache ist – als zentrales Werkzeug zur Selbstermächtigung für die in der neuen Heimat an den Rand gedrängten Eingewanderten. Die Dialoge gehen zu großen Teilen auf eine von Co-Drehbuchautorin Enis Maci eigens angefertigte, »modernisierte« deutsche Übersetzung zurück, die aber Duktus und Rhythmus des englischen Originals weitgehend beibehält. Das verhindert effektiv, dass der Film einfach als eine weitere Episode des seit einiger Zeit so beliebten, aber auch Stereotype reproduzierenden Genres der migrantischen Gangsterstories im Berliner Untergrundmilieu abgetan werden kann.

Das Schauspiel ist stark theatral – nicht nur durch die Sprache, auch in der Inszenierung. Die meisten Szenen wirken wie Bühnenbilder, die Kamera bewegt sich wenig. Das stellt die herausragenden Leistungen der überwiegend weiblichen Darstellerinnen in den Vordergrund – angeführt von einer furiosen Kenda Hmeidan, die 2015 selbst von Syrien nach Deutschland floh und Deutsch auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters lernte. »Kein Tier« verwehrt sich stereotypen Zuschreibungen von unterdrückten Frauen in vermeintlich rückständigen migrantischen Gemeinschaften. Nein, hier sind sie die treibenden Kräfte, ihren männlichen Widersachern meist mindestens einen Schritt voraus.

Man muss sich Antiheldin Rashida als von Rachsucht auf ihre Unterdrücker (An-)Getriebene vorstellen. Richard aus der Vorlage ist wegen seiner körperlichen Deformierung ein Außenseiter, für Rashida ist es als Frau nicht vorgesehen, eine tragende Rolle in der Erbfolge der Yorks zu spielen. Sie wehrt sich, indem sie sich als eine Art fleischgewordener Todestrieb an die Spitze eines Herrschaftssystems setzt – dessen und ihre eigene Zerstörung bereitwillig in Kauf nehmend. So wird ihre Geschichte auch eine Studie der totalen Verrohung, die bei einem ungebremsten Willen zur Macht unvermeidlich scheint. Im Film wird das eindrucksvoll, ja bild-gewalttätig dargestellt, mit immer weiter zerfasernden, jegliche Struktur verlierenden und düster werdenden Setdesigns.

»Kein Tier. So Wild« ist ein lautstarker und doch feinsinniger Appell gegen migrantische Assimilation, dem die Liebe aller Beteiligten zum eigenen Schaffen deutlich anzumerken ist. Genau darin liegt allerdings auch seine Schwäche: Die theatrale Inszenierung sorgt für ein zwar eindrucksvolles, aber auch sperriges Kinoerlebnis. Jede Szene enthält neben aller Dramatik auch ein hohes Maß an verfremdender Ästhetisierung, was es streckenweise schwer macht, mit den Figuren mitzufühlen, teilweise auch nur dem Geschehen zu folgen – zumindest wenn man kein*e passionierte*r Theatergänger*in ist. »Kein Tier. So Wild.« gehört so definitiv eher in die Kategorie Kritiker- bzw. Cineasten- und nicht Publikums-Film. Was leider auch dafür sorgen dürfte, dass Qurbani viele derer, die er vermutlich ermutigen oder aufrütteln will, wohl eher nicht erreichen wird. Die Gelegenheit, mit ihm ins Gespräch zu kommen, haben beim Q&A in Neukölln jedenfalls kaum mehr als eine Handvoll Personen wahrgenommen.

Henrik Schnittger

ist Literaturwissenschaftler.