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Keine Schnellstraße zur Revolution

»We Do This ´Til We Free Us« von Mariame Kaba ist ein Plädoyer dafür, Beziehungen in den Mittelpunkt von Kämpfen zu rücken

Von Kathi King

BLM 4. Juni 2020 in Portland
Damit Bewegungen wie Black Lives Matter erfolgreich sein können, braucht es keinen Einzelkämpfer*innen-Aktivismus, sondern Beziehungsarbeit und Vertrauen untereinander, meint die Autorin Mariame Kaba. Foto: Matthew Roth /Flickr, CC BY-NC 2.0

»Wir machen weiter, bis wir uns selbst befreien« – so lässt sich der programmatische Titel des neuen Buches von Mariame Kaba übersetzen. Die Autorin gilt in den USA als eine der wichtigsten Vordenker*innen des modernen Abolitionismus. Mit »We Do This ´Til We Free Us« hat sie nun eine Sammlung von Essays, Artikeln, Interviews und Blogbeiträgen vorgelegt, die sich mit der Kernforderung dieser Bewegung befassen: die Abschaffung von Gefängnissen und der Polizei.

Kaba, selbst in Bewegungszusammenhängen aktiv, will sich dennoch nicht als »Aktivistin« verstanden wissen. Bei ihr machen Organizer*innen die wirklich wichtige Arbeit – Arbeit, die Beziehungen stiftet, die in der Community stattfindet und die diese zusammenhält. Ihren Analysen einer durch Gewalt geprägten Gesellschaft stellt Kaba entsprechend die zentrale Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und kollektiven Handelns gegenüber. Bei all dem stehen Schwarze Frauen und Mädchen im Zentrum ihres politischen Denkens – sowohl im Hier und Jetzt, als auch in ihren utopischen Vorstellungen davon, wie Gesellschaft sein könnte.

Mit dem Begriff »Abolitionismus« zieht sie dabei eine Linie zur gleichnamigen Anti-Sklavereibewegung des 19. Jahrhunderts. In Kabas Definition verkörpert dieser die Vision einer Welt, in der wir mit erlittenem Leid umgehen und uns von gewalttätigen Strukturen befreien können. Es ist eine Welt abseits marktwirtschaftlicher Logik, in der unsere zentralen Bedürfnisse erfüllt werden: Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Gesundheit, und »all die Dinge, die der eigenen Sicherheit … zu Grunde liegen.«

Ihren Analysen einer durch Gewalt geprägten Gesellschaft stellt Kaba die zentrale Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und kollektiven Handelns gegenüber.

Entgegen dem oft von Kritiker*innen vorgebrachten Vorwurf, Abolitionist*innen, die die Abschaffung des Strafsystems fordern, seien naiv bezüglich realer Gewaltverhältnisse, beleuchtet die Autorin unterschiedlichste Formen von Gewalt: von zwischenmenschlicher, über Formen der Kriminalisierung und Inhaftierung durch den Staat, von struktureller Gewalt durch Rassismus, über das Hetero-Patriarchat und den Kapitalismus. Diese Themenkomplexe schafft das Bändchen auf 240 Seiten differenziert und zugleich gut zugänglich zu beleuchten. Dennoch kann man »We Do This« nicht unbedingt als Einführung in Abolitionismus und Transformatives Organizing im Allgemeinen lesen, sondern vor allem als Porträt der US-amerikanischen Variante, die Kaba vertritt.

Immer wieder aufstehen

Die Texte, die aus dem Zeitraum zwischen 2014 und 2020 stammen, fallen mit dem Aufkommen der Black Lives Matter-Bewegung (BLM) zusammen. Sie dienen dabei auch der Darstellung des abolitionistischen Teils von BLM, und deren spezifischen Blick auf die Polizeigewalt, die Gerichtsverfahren, die Mord- und Todesfälle, die Black Lives Matter vorausgegangen waren und bis heute begleiten.

Kabas Buch ist hier vor allem ein Call to Action und ein Plädoyer für einen langen Atem. »There are no life hacks to revolution«, schreibt die Politikwissenschaftlerin Naomi Murakawa in ihrem Vorwort, und so viel wird einem nach der Lektüre des Buches in jedem Fall klar: Abolitionistisches Organizing ist eine kleinteilige Arbeit, die von häufigem Scheitern geprägt und trotzdem unersetzbar ist. »Hoffnung ist eine Disziplin«, kommentiert Kaba diesen Kraftakt. Man nimmt ihr solche Sätze ab, denn hinter Kabas Analysen steckt Substanz, im Sinne von Erfahrung. Kaba hat kriminalisierte Jugendliche und Angehörige von Opfern von Gewalt unterstützt, zahlreiche Kampagnen und Bündnisse auf die Beine gestellt – wie die Chicago Alliance to Free Marissa Alexander oder das Project NIA, welches sich gegen die Inhaftierung von Jugendlichen einsetzt – und dabei nie den abolitionistischen Fokus verloren.

Eine offene Frage bleibt die nach der Übertragbarkeit von Kabas Handlungsanweisungen, beziehen sich ihre Analysen doch in erster Linie auf den spezifisch US-amerikanischen Kontext. Hier liegen die Wurzeln des Polizeiapparats in den Sklaven(fänger)patrouillen der Südstaaten im 18. und 19. Jahrhundert, und bei den Milizen zur Unterdrückung von Streiks und Arbeitskämpfen in den Nordstaaten, die dort etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts auftraten. Man erfährt auch von der »Pinkerton-Agency«, einer Streikbrechagentur, die dank ihres Erfolges zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Geschaffen zur Aufrechterhaltung rassistischer und kapitalistischer Ausbeutungsstrukturen hält der »Prison Industrial Complex«, der gefängnisindustrielle Komplex, von dem US-Abolitionist*innen in Analogie zum militärisch-industriellen Komplex sprechen, derlei Unterdrückungsstrukturen bis heute aufrecht.

Argumentationshilfe und Werkzeugkasten

Für den europäischen »Sicherheitsapparat« lässt sich diese strukturelle Verknüpfung von Rassismus und Sklaverei einerseits und der Schaffung eines bis in die Gegenwart hinein zutiefst rassistischen Strafsystems andererseits nicht im selben Maße konstatieren. So wurden die Sicherheitsapparate in der BRD vermutlich stärker durch das preußische und nationalsozialistische Erbe geprägt, als durch den deutschen Kolonialismus.

Vieles in Kabas Text bleibt trotzdem allgemeingültig und auch auf den europäischen Kontext übertragbar, denn das Buch ist nicht nur eine Porträtsammlung historischer und aktueller abolitionistischer Akteur*innen und Initiativen in den USA, sondern auch eine knast- und polizeikritische Argumentationshilfe, eine Prinzipienerklärung, eine politische Analyse und ein hilfreicher Werkzeugkasten für die Praxis. So widmet sich Kaba vielen Grundsatzfragen, mit denen sich Knastkritiker*innen auch hierzulande konfrontiert sehen: Was tun mit Gewalttäter*innen, wie das Strafsystem reformieren, und bleiben in einer durch Gewalt strukturierten Gesellschaft Zwangsmechanismen notwendig? Was man in jedem Fall aus der Lektüre mitnehmen kann ist die Inspiration, es zu wagen, das Thema Abolitionismus mehr ins Zentrum zu rücken.

Kathi King

promoviert an der Uni Freiburg zu afroamerikanischen Schriftstellerinnen in der Ära des New Deal in den USA. Sie schreibt häufig für die iz3w.

Mariame Kaba: We Do This ´Til We Free Us. Abolitionist Organizing and Transforming Justice. Haymarket Books. Chicago 2021. 240 Seiten, 15 EUR.