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|ak 689 | Alltag |Reihe: euer Ehren

Kein Hund nimmt ein Stück Brot

Von Moritz Assall

Im Strafprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1945/46 waren führende Personen des faschistischen Deutschlands wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit angeklagt. Die vielen anderen Täter*innen wurden jedoch nie belangt und übten weiterhin ihre Berufe aus – auch die Jurist*innen. Foto: Bundesarchiv Bild 183-H27798/Wikimedia , CC BY-SA 3.0 DE

Am 10. November 1938 saß die Dortmunder Familie Rüthers beim Abendessen. Der Vater wandte sich an seine drei Söhne, darunter der damals achtjährige Bernd Rüthers, mit den Worten: »Ihr wisst jetzt, wir leben in einem Verbrecherstaat. Aber ihr dürft das niemals jemandem sagen.« In der Nacht zuvor wurde das Haus von Männern der SA gestürmt, die jüdische Nachbarsfamilie Sternberg mitsamt Bernds gleichaltriger Kinderfreundin Ingrid Sternberg aus der Wohnung geprügelt, die Räume der Sternbergs verwüstet, das Mobiliar durch das Fenster auf die Straße geworfen. Die beiden jüdischen Hausmädchen der Sternbergs wollten die Männer der SA ebenfalls mitnehmen, suchten sie aber vergeblich. Sie waren versteckt im Schlafzimmer der Familie Rüthers.

Dreißig Jahre später, im Jahr 1968, erschien die Habilitationsschrift von Bernd Rüthers. Sie trägt den Titel »Die unbegrenzte Auslegung«, hat die Anwendung des Rechts im Nationalsozialismus zum Thema und wurde 2022 in sage und schreibe neunter Auflage veröffentlicht. Rüthers ging es darum, zu zeigen, wie das Recht von »ungemein großer Interpretationsfreiheit« gekennzeichnet ist, wie also nationalsozialistische Ideologie methodisch Eingang in die Rechtspraxis gefunden hat.

Tatsächlich wurden nach der Machtübernahme der Nazis nur erstaunlich wenige Gesetzestexte geändert, das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) etwa blieb mit wenigen Ausnahmen bestehen. Die juristische Praxis trug aber dennoch maßgeblich zur Entrechtung verfolgter Gruppen bei, allen voran der Jüdinnen und Juden. Ein Beispiel für nationalsozialistische Rechtsanwendung: Am 16. September 1938 ging es vor dem Amtsgericht Berlin Schöneberg um die Kündigung einer kleinen Zweizimmerwohnung. Die Mieterin, eine Jüdin, lebte in dieser Wohnung seit 1927, ohne dass sie dem Vermieter Anlass zur Klage gegeben hätte.

Dennoch wurde die Kündigung durch den Richter bestätigt. Das Gericht urteilte: Das Mieterschutzgesetz setze die Zugehörigkeit zur »Hausgemeinschaft« voraus. Die Hausgemeinschaft sei ein Teil der Volksgemeinschaft. Juden gehörten jedoch nicht der Volksgemeinschaft, ergo auch nicht der Hausgemeinschaft an. Wenn die Frau ihre Wohnung auf Wunsch des Vermieters nicht räume, so das Gericht, störe sie die »arische Hausgemeinschaft« im Sinne einer »erheblichen Belästigung«, die Kündigung sei daher rechtens.

Faschismus mit Gerichtsstempel also, alles im Rahmen der bestehenden Gesetze, verkündet durch Juristen, die meist auch nach 1945 im Amt waren, ganz so als hätte es diese Urteile, die Entrechtung, die Entmenschlichung, die Vernichtung, den Holocaust nie gegeben. Sie arbeiteten weiter als Richter, als Anwälte oder Hochschullehrer. Selbst im Bundesjustizministerium waren von den 1950er bis 1970er Jahren mehr als die Hälfte aller Leitungspositionen von früheren NSDAP-Mitgliedern besetzt.

Schnell etablierte sich, was Rüthers im Vorwort zur aktuellen Auflage als »einvernehmliche Schweigevereinbarung« beschreibt. Als Rüthers Anfang der 1960er Jahre seinem Doktorvater Hans Brox verkündete, er wolle eine Habilitation über die juristische Methodik im Nationalsozialismus schreiben, war dieser dementsprechend skeptisch. Übermittelt ist seine scharfe Warnung: »Herr Rüthers, Sie spinnen wohl! Die leben doch alle noch. Von Ihnen nimmt, wenn Sie das schreiben, kein Hund ein Stück Brot. An Rufe, wenn Sie damit habilitiert werden, ist nicht zu denken.« Der Jurist Sebastian Felz hat kürzlich in der Legal Tribune Online einen lesenswerten Artikel zur Entstehungsgeschichte von »Die unbegrenzte Auslegung« veröffentlicht. Felz ist Vorstandsmitglied im Forum Justizgeschichte, einem Verein, der sich der Erforschung und Darstellung des Justizunrechts im 20. Jahrhundert verschrieben hat.

Wie bitter nötig dies war und ist, zeigt auch die weitere Geschichte von Rüthers Werk: Wie er sich mit der Themenwahl durchsetzen musste, wie seine dann fertige Arbeit zunächst dennoch nicht als Habilitation angenommen wurde, wie er für das »unseriöse« Thema auf Verlagssuche ging, wie die Professorenschaft zu seinem Buch »kommunikativ schwieg«, wie er später als Nestbeschmutzer und »grundsatzloser Relativist« zunächst nicht berufen wurde. Felz schreibt: »Die Entscheider waren jeweils Männer mit Vergangenheit, die vergehen sollte.« Es ist auch Bernd Rüthers zu verdanken, dass dies nicht geschehen wird.

Moritz Assall

ist Jurist und Kriminalsoziologe. Er arbeitet für die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.