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Magische Regale

Von Moritz Assall

Kunst«, schreibt Jens Kastner in seinem Buch »Die Linke und die Kunst«, »Kunst hat in vielerlei Gestalt in die Narrative der Linken Eingang gefunden: als Mittel der Aufklärung, als Behälter der Wahrheit, als Entlarvungsgeste, als Teil von Emanzipationsprozessen, als Ermächtigungspraxis, als performatives Potenzial des Bruchs mit Konventionen, als Bestandteil sozialer und kultureller Neuzusammensetzung, als Instrument der Freiheit«. Aber was ist sie denn nun, diese Kunst? Adorno schrieb, Kunst sei »Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein« – ein Zitat, so schön, dass es auch selbst Kunst sein könnte. In der Frage, was Kunst ist und was nicht, hilft es allerdings jetzt auch nicht so richtig weiter.

Auch vor Gerichten stellt sich die Frage nach der Kunst, zumal sich an dem Begriff der Kunst oft erhebliche Rechtsfolgen festmachen. Leicht gequält stellten Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht dabei unisono fest, die »Bestimmung des Kunstbegriffs« leide darunter, »dass eine Definition der Kunst ihrem eigentlichen Wesen widerspricht, eine Abgrenzung in der Rechtsanwendung aber unvermeidlich« sei. Und auch der Bundesgerichtshof hält seit Jahrzehnten an seiner Rechtsprechung fest, dass im Zweifel eine weite Definition geboten sei, »um Kunstrichtertum auszuschließen«, was eine irgendwie lustige Formulierung ist angesichts dessen, dass genau das an deutschen Gerichten recht oft stattfindet: Die richterliche Feststellung darüber, was Kunst ist und was nicht.

Manchmal geht es dabei um Fragen der Kunstfreiheit, zum Beispiel 2018 vor dem Oberlandesgericht Saarbrücken. Der Künstler Alexander Karle hatte in der Basilika St. Johann in Saarbrücken auf dem Altar 26 Liegestütze gemacht, sich dabei gefilmt und das Video unter dem Titel »pressure to perform« in Endlosschleifen unter anderem in mehreren Schaufenstern vorgeführt. Kunst? Diese Frage ging durch mehrere Instanzen, die Gerichte kamen zu verschiedenen Ergebnissen. Das OLG befand schließlich: Wenn es denn Kunst war, könne es nicht diesen »beschimpfenden Unfug« rechtfertigen. Das ist alles nicht von der Kunstfreiheit gedeckt.

Meist geht es aber um profanere Angelegenheiten als die Fragen von Religion und Kunstfreiheit, zum Beispiel um Steuersätze und Regalsysteme. Das Finanzgericht Baden-Württemberg etwa analysierte sehr ausgiebig Genre und Machart von Trauerreden, weil eine Trauerrednerin als »ausübende Künstlerin« den reduzierten Steuersatz von 7 Prozent geltend machte. Das Gericht sah in ihren Reden aber »keinen Spielraum für künstlerisches Schaffen«, da das Publikum bei Trauerreden schlicht nicht künstlerisch unterhalten werden wolle.

Das Finanzgericht hat offenbar nicht die Grundrisse von Marx gelesen, in denen er schrieb, jede Kunst produziere nicht nur »einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand«, die Kunst produziere sich also ihr jeweiliges »kunstsinniges und schönheitsgenussfähiges Publikum«. Vielleicht dachte Marx bei Schönheitsgenuss aber auch nicht unbedingt an Trauerreden. Jedenfalls laut Gericht: keine Kunst und kein reduzierter Steuersatz. Anders entschied das Finanzgericht Düsseldorf im Fall eines DJs, der vor allem bei Hochzeiten, Geburtstagsfeiern und Firmenveranstaltungen auftrat. Der DJ schickte dem Gericht einen USB-Stick mit einigen seiner Remixes der Stücke »Atemlos« von Helene Fischer, »Pretty Woman« (Roy Orbison) und »Papa was a rolling stone« (The Temptations), was das Gericht offenbar überzeugte. Es erkannte einen »ihm eigenen Stil«, eine »eigenschöpferische Leistung«, also kurz: Kunst im Sinne des Einkommenssteuergesetzes. Bis zum Europäischen Gerichtshof geht aktuell die offene rechtliche Frage, ob das aus zahlreichen Architekturbüros und Zahnarztpraxen bekannte Regalsystem »USM Haller« ein »Werk der angewandten Kunst« im Sinne des Urhebergesetzes sei.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte da zuletzt seine Zweifel. Zwar kam es nicht umhin, im Urteil anerkennend den »hervorgerufenen Anschein der Leichtigkeit« und den »äußerst ästhetischen Eindruck« zu erwähnen, Kunst konnte es in dem Regal jedoch nicht erkennen. 30 Jahre zuvor hatte das OLG Frankfurt hingegen in dem Regalsystem die »Versinnbildlichung der Mobilität des modernen technischen Lebens« in Möbelform, also klare Kunst erkannt. Und so geht es vor den Gerichten in Kunstfragen hin und her. Was also ist richtig, was ist wahr? Ich weiß es auch nicht. Vielleicht hatte Adorno ja doch recht.

Moritz Assall

ist Jurist und Kriminalsoziologe. Er arbeitet für die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.