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Horror-Show zur Geisterstunde

Bei einer gynäkologischen Fachtagung hält der Rechtsmediziner Klaus Püschel eine »Midnight-Lecture« über »vorgetäuschte Vergewaltigungen«

Von Anke Kleinemeier und Anh-Thy Nguyen

mikroskopische Aufnahme eines unbekannten materials in verschiedenen pink-tönen
Als ehemaliger Leiter des Instituts für Rechtsmedizin kennt sich Klaus Püschel mit forensischen Aufnahmen wie dieser aus. Und damit wie man trotz viel Dreck am Stecken zum Hanseat des Jahres gekürt wird. U.S. Fish and Wildlife Service Headquarters /Flickr , gemeinfrei

Als hätte er nicht schon genug angerichtet, setzt sich Professor Klaus Püschel, trotz seiner Pensionierung nicht zur Ruhe. Dabei wäre es längst höchste Zeit gewesen, den ehemaligen Lehrstuhlinhaber der Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) von der großen Bühne zu verabschieden.

Stattdessen ergießt er sich seit seiner Emeritierung in pseudoliterarischen True-Crime-Büchern wie dem 2020 erschienen Buch »Sex and Crime. Die Wahrheit ist der beste Krimi« und schöpft dabei reichlich aus seiner gedanklichen Asservatenkammer. Er führt Vergewaltigungen darin nicht auf patriarchale Strukturen und sexualisierte Gewalt zurück, sondern auf Triebe. »Der Sexualtrieb steht im Zentrum von dem, was ich beschreibe. Das ist eines der wichtigsten Motive, das diese Menschen antreibt«, lässt er sich in den Stuttgarter Nachrichten zitieren.

Was nun kommt, klingt wie ein Witz von Friedrich Merz, ist aber keiner: Treffen sich drei honorige Gynäkologen und planen eine Fachtagung, auf der vor allem andere männliche Kollegen sprechen. Was wählen sie als kulturellen Beitrag für das Abendprogramm? Genau: eine »Midnight Lecture« von Klaus Püschel zum Thema »Die (vorgetäuschte) Vergewaltigung«. Nachdem die Veranstalter der Fachtagung, die am 29. April stattfinden soll, von möglichen Protesten erfahren hatten, wurde zwar der Titel in »Midnight Lecture: Vergewaltigung – Spurensicherung und Dokumentation des Verletzungsmusters« geändert – der zu erwartende Inhalt der Geisterstunden-Lesung bleibt jedoch mutmaßlich derselbe.

Klaus Püschel

ist der ehemalige Lehrstuhlinhaber der Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Ab Mitte 2001 rechtfertigte er die gewaltsame Vergabe von Brechmitteln gegen vermutete Drogendealer und ließ diese an seinem Institut durchführen. Schon damals kamen die Hamburger Ärztekammer und der Deutsche Ärztetag einhellig zu der Auffassung, dass Brechmitteleinsätze ethisch nicht vertretbar seien – eine Auffassung, die Klaus Püschel nicht teilte.  Im Dezember 2001 starb der 19-Jährige Achidi John bei einer solchen Zwangsverabreichung. Weder Klaus Püschel noch die politischen Verantwortlichen wurden dafür jemals zur Rechenschaft gezogen. Darüber hinaus war Püschel zuständig für Altersfeststellung bei minderjährigen papierlosen Jugendlichen. Über Jahre bestimmte Püschel im Institut für Rechtsmedizin des UKE das Alter von jungen Geflüchteten anhand von Röntgenaufnahmen ihrer Knochen und der Inaugenscheinnahme der Genitalien. Der Deutsche Ärztetag 2007 nannte diese Praktiken »wissenschaftlich höchst umstritten« und lehnte »jegliche Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten zur Feststellung des Alters von Ausländern mit aller Entschiedenheit ab«.

Zu Püschels Arbeitswelt als Leiter der Rechtsmedizin gehörte unter anderem auch die Untersuchung von Opfern sexualisierter Gewalt. Das mag verwundern, hätte man die medizinische Untersuchung von Betroffenen sexualisierter Gewalt vermutlich eher in der Gynäkologie verortet. Doch die Ausbildung von Gynäkolog*innen beinhaltet nicht einmal die rechtsmedizinische Untersuchung von Vergewaltigungsdelikten oder den Umgang mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Personen.

Umso verwunderlicher ist es, Prof. Püschels »Midnight Lecture« zu diesem Thema auf einer Fortbildungsveranstaltung zu finden, bei der es nach dem ursprünglichen Titel zu urteilen offensichtlich nicht darum geht, Gynäkolog*innen auf diesem Feld besser auszubilden, sondern – im Gegenteil – Indizien und Untersuchungsmethoden zu erlernen, um vermeintliche Falschaussagen zu entlarven. In Deutschland werden jährlich etwa 8.000 Fälle von sexualisierter Gewalt zur Anzeige gebracht. Die Anzahl der tatsächlichen Fälle unterliegt dabei einer großen Dunkelziffer. Unterschiedliche Studien gehen davon aus, dass die angezeigten Fälle nur etwa fünf bis 15 Prozent der Gesamtfälle ausmachen.

Seit den 1980er Jahren ist die Verurteilungsquote bei zur Anzeige gebrachten Vergewaltigungsvorwürfen von durchschnittlich 20 Prozent auf 13 Prozent im Jahr 2000 gefallen. Dieser Abwärtstrend geht in Deutschland trotz etwas steigender Meldequote weiter. 2012 betrug die Verurteilungsquote laut Angaben des Bundesamtes für Justiz nur noch 8,4 Prozent.

Populistische Zahlenspiele

Einer der Gründe dafür liegt sicherlich darin, dass bei mangelnder Beweislage die Ermittlungen beziehungsweise die Verfahren eingestellt werden. Eine forensisch-gynäkologische Untersuchung kann dazu beitragen, Beweise zu sichern – sie ist aber alles andere als angenehm. Betroffene müssen unmittelbar nach dem Übergriff den Tatvorhergang beschreiben, eine Untersuchung an den Genitalien durchführen lassen und dürfen nicht sofort alle Spuren des Täters abwaschen, wie sie es sich wahrscheinlicher in dem Moment wünschen. Es ist entscheidend, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt auf Ärzt*innen treffen, die – wenn sie schon nicht parteilich an ihrer Seite stehen – zumindest neutral die Spuren sichern, sowie im Umgang mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen geschult und empathisch sind.

Es ist entscheidend, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt auf Ärzt*innen treffen, die geschult und empathisch sind.

In Hamburg gerieten viele Betroffene jedoch an Prof. Klaus Püschel, der 2015 gegenüber der Zeitung Die Welt sagte: »Einige vermeintliche Vergewaltigungen unter K.o.-Tropfen sind eher auf starken Konsum von Alkohol oder Drogen zurückzuführen.« Eine bemerkenswerte Aussage, schließlich sind Substanzen wie K.o.-Tropfen bereits nach kurzer Zeit im Blut nicht mehr nachweisbar. Seit Jahren geht Püschel in diversen Medien zudem mit sogenannten Fake-Fällen hausieren. 2011 sagte er gegenüber dem Medium Der Westen: »In einem Viertel bis einem Drittel der Fälle, die in unserer Ambulanz untersucht werden, handelt es sich um Falschaussagen.« Die Betroffenen wollten sich nur »interessant machen« oder seien »psychisch auffällig« und suchten »Aufmerksamkeit«. 2015 sagte er gegenüber der Welt, wenn Betroffene in einer Beziehung seien, versuchten sie einen Seitensprung »durch eine Strafanzeige gegenüber ihrem Partner zu rechtfertigen«. Und 2017 schätzte er gegenüber der Stuttgarter Zeitung, dass »zwischen 30 und 50 Prozent der polizeibekannten Fälle Falschbeschuldigungen sein« könnten.

Dass die Zahlen, mit denen Herr Püschel in den diversen Interviews jongliert, stark voneinander abweichen, mag darauf zurückzuführen sein, dass diese nicht etwa auf eigenen Studien des Instituts, sondern auf den subjektiven Schätzungen des Rechtsmediziners basieren. Püschel nährt mit diesen Zahlenspielen eine Kultur der Skepsis gegenüber Betroffenen von sexualisierter Gewalt, die jeder Faktizität entbehren. Eine wissenschaftliche Studie von 2005 zeigte deutlich, dass das Vorkommen von Falschanschuldigungen bei Vergewaltigungsvorwürfen von Mediziner*innen, Polizei und Justiz stark überinterpretiert wird. Tatsächlich liegt der Anteil bei nur drei Prozent und ist somit als marginal zu bezeichnen. (1)

Püschel leistet damit jedoch der sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in medizinischen Kreisen vorherrschenden Überbewertung des Problems der Falschbeschuldigungen Vorschub und bekräftigt die oft beschworenen patriarchalen Bilder der intrigierenden Frau und des zu Unrecht beschuldigten Mannes. In einem System, in dem nur fünf bis zehn Prozent aller Vergewaltigungen überhaupt zur Anzeige gebracht werden, müssen offensichtlich große Anstrengungen unternommen werden, um einen rechtlichen und medizinischen Rahmen zu bieten, in dem die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt stehen. Ein Mediziner, in dessen Gedankenwelt das Problem der Falschbeschuldigung zentraler ist als dieses, hat in unseren Augen zur öffentlichen Debatte um Vergewaltigungen fachlich nichts beizutragen.

Anh-Thy Nguyen und Anke Kleinemeier

arbeiten als Gynäkologinnen und sind Teil einer Gyn-Ag, die den Aufbau einer gynäkologischen Versorgung innerhalb der Poliklinik Hamburg-Veddel erreichen möchte.

Anmerkung:

1) Corinna Seith, Joanna Lovett & Liz Kelly (2009): »Unterschiedliche Systeme, ähnliche Resultate? Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern. Länderbericht Deutschland.«