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Mehr Alltag als Sozialismus

Jule Ehms spürt in ihrem Buch der historischen FAU-D nach – das ist spannend und aktuell, entscheidende Fragen bleiben aber offen

Von Christian Lelek

Der Syndikalist war das Sprachrohr der Freien Arbeiter Union Deutschland. Foto: Institut für Syndikalismusforschung

Die Mentalität der Arbeiter und ihr Indifferentismus wird nicht dadurch überwunden, dass wir immer wieder auf dem Markt schreien, wie es nicht gemacht wird«, so schrieb der Maurer Heinrich Reuß Ende der 1920er Jahre im Syndikalist, dem Mitteilungsorgan der Freien Arbeiter-Union Deutschland (FAU-D). Heilsamer sei es stattdessen, »zu zeigen, wie es gemacht wird«. Das hätten die Fliesenleger in Köln, Düsseldorf, Gladbach und Krefeld getan.

Reuß war Vertreter der dominanten Fraktion innerhalb der FAU-D, die einforderte, Handlungsspielräume, wenn möglich, zu nutzen, anstatt sich in Ideologie und Kritik zu verlieren oder in Prinzipientreue zu verharren. Mit diesem Beispiel unterstreicht die Historikerin Jule Ehms ihre zentrale These: Die FAU-D strebte einen Gleichschritt aus betrieblichem Alltagskampf einerseits und dem Aufbau des Sozialismus andererseits an, war in der Praxis aber vor allem mit ersterem befasst.

Gewerkschaft als Keimzelle

Der Syndikalismus geht auf die Ideen französischer Frühsozialist*innen und ihrer Weiterentwicklung zurück. Er materialisiert sich Ende des 19. Jahrhunderts in der Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT), die – wenngleich weniger radikal auftretend als damals – auch gegenwärtig die Straßenzüge Frankreichs prägt. Nach dem Ersten Weltkrieg – da ist die syndikalistische Blüte der CGT schon vorüber und sie steht kurz vor der Spaltung – findet der Syndikalismus auch nach Deutschland. Aufgenommen werden seine Ideen von unzufriedenen Sozialdemokrat*innen und oppositionellen Gewerkschafter*innen, die den Zentralismus ihrer Organisationen nicht mehr mitgehen wollen. Sie verlangen mehr Autonomie der Verbände und orientieren sich zunehmend antiparlamentarisch. Aus der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG) geht im Dezember 1919 die FAU-D hervor. Rudolf Rocker verfasst ihr Programm, in dem er den markanten Dualismus der neugegründeten Gewerkschaft wie folgt beschreibt: Die Syndikalist*innen seien der Meinung, »dass politische Parteien (…) niemals imstande sind, den sozialistischen Aufbau durchführen zu können, sondern dass diese Arbeit nur von den wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter geleistet werden kann.« Es sei die Gewerkschaft, die als »Keimzelle der zukünftigen Wirtschaftsorganisationen« funktioniere, und in diesem Sinne »erstreben die Syndikalisten schon heute eine Form der Organisation, die sie befähigen soll, ihrer großen historischen Mission und in der selben Zeit dem Kampfe für die täglichen Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsverhältnisse gerecht zu werden.«

Damit bestimmte sich die FAU-D in Abgrenzung sowohl zu Parteien, als auch zu den Freien Gewerkschaften des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), die sich ein Jahr zuvor, im November 1918, mit dem sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen in eine Sozialpartnerschaft mit den Arbeitgeberverbänden begeben hatten. Die Novemberrevolution hatte den Arbeiter*innen und ihren Gewerkschaften zu neuer Macht verholfen. Eine Eintrittswelle erlebte auch die FAU-D, wobei 150.000 Mitglieder im Jahr 1921 eine Momentaufnahme darstellen. Die Masse bleibt nicht haften. 1923 waren es nur noch 30.000 Mitglieder. In der Gesamtschau blieb die FAU-D mit Blick auf ihre organisatorische Größe und die Durchsetzungsfähigkeit der Interessen ihrer Mitglieder eine marginale Gewerkschaft.

Pragmatismus setzt sich durch

Die Historikerin Ehms wendet sich in ihrem Buch nun erstmals der Aufgabe zu, die betriebliche Praxis der FAU-D auf ihre syndikalistischen Prinzipien hin zu prüfen. Ihre Quellen sagen sowohl etwas über die geführten Arbeitskämpfe, als auch über den Umgang mit dem institutionellen Rechts- und Vertretungswesen (z.B. Betriebsräte, Tarifverträge, Arbeitsrecht) aus. Ehms kommt zunächst zu dem Schluss, dass sich die FAU-D insbesondere im Fortgang der 1920er Jahre, ihrer schwachen Position bewusst gewesen ist. Um dennoch konkreten Einfluss auf die ökonomische Lage der Arbeiter*innen nehmen zu können, hätte sich der Ansatz der pragmatischen Interessenorganisation durchgesetzt. So sei es aus Sicht der FAU-D möglich und nötig gewesen, auch auf institutionalisierte Mittel zurückzugreifen, um »Arbeitskämpfe in einem syndikalistischen Sinn« beeinflussen zu können. Denn die Gewerkschaft sah sich dem potenziellen Dilemma gegenüber, »einerseits aufgrund der eigenen Schwäche zu viele Zugeständnisse zu machen und damit das politische Profil zu verlieren und andererseits diese Schwäche durch eine dogmatische Haltung zu verstärken und gänzlich handlungsunfähig zu werden.« Die Aneignung der Produktionsmittel durch die vollständige Eroberung der Betriebe oder Generalstreiks seien deshalb als langfristige Ziele in den Hintergrund gerückt.

Die Aneignung der Produktionsmittel oder Generalstreiks sind als langfristige Ziele in den Hintergrund gerückt.

Diese Form des Pragmatismus hätte sich auch im Umgang mit anderen Gewerkschaften niedergeschlagen, so meint Ehms. Auch wenn sie sich zuweilen als Gegner gegenüberstanden, wären die Syndikalist*innen stets bereit gewesen, Arbeitskämpfe, die von konkurrierenden Gewerkschaften geführt wurden, im Sinne der Arbeiter*inneninteressen zu unterstützen. Und: je weiter man sich der arbeitenden Basis genähert hätte, desto geringer sei die Feindschaft gegenüber jenen Kolleg*innen ausgefallen, die Mitglied anderer Gewerkschaften waren.

Die konkreten Beispiele aus dem Gewerkschaftsalltag machen Ehms Arbeit für die Leser*innen zugänglich und für heutiges Gewerkschaftshandeln anknüpfungsfähig. Hierbei treten die Organisation der Fliesenleger aus dem Ruhrgebiet und die der Kistenmacher aus Berlin besonders hervor. Sie scheinen langjährige feste Strukturen gewesen zu sein, die selbst trag- und durchsetzungsfähig waren. Anregend sind dabei auch die Details, mit denen Ehms Schlaglichter auf die Geschichte der Arbeitskämpfe wirft. So hätten die Fliesenleger – in diesem Fall aus Wuppertal – des Nachts die eigens angebrachten Fliesen wieder abgeklopft, um den Betriebsablauf zu stören. Solche Anekdoten machen neugierig darauf, tiefer einzusteigen und zu erfahren, wie die Aktion weiterlief und was ihr vorausging.

Doch hier kommt die Studie an ihre Grenzen. Ehms wird nicht müde zu erwähnen, wie schlecht die Quellenlage sei und wie wenig die Syndikalist*innen selbst dokumentiertet hätten. Viele Hintergründe bleiben so verborgen. Wir erfahren leider wenig über das soziale Gefüge in den Betrieben, wie die Kolleg*innen miteinander agierten, worüber sie sprachen oder wie sie im Betrieb agitierten. Die kleinteilige gewerkschaftliche Arbeit hinter dem Werkstor, die Kommunikation mit den Kolleg*innen, kollektive Meinungsbildung und Entscheidungsfindung bezüglich gemeinsamer Interessen beinhaltet, die Voraussetzung ist für Arbeitskämpfe, wird im Buch nicht beleuchtet.

Wie in die Offensive kommen?

Auch als Einstieg in den Syndikalismus taugt die vorliegende wissenschaftliche Dissertation kaum. Zu sehr fokussiert Ehms darin auf ihre Forschungsfrage. Wichtige Begriffe des Syndikalismus bleiben unterbestimmt. Der Wert der Arbeit liegt stattdessen in der gegenwärtigen Relevanz vieler Fragestellungen, mit denen die historischen Syndikalist*innen konfrontiert waren. So hätten sie angesichts der Hyperinflation zunehmend den Nutzen von Tarifverträgen in Frage gestellt. Inwieweit die institutionalisierten Arbeitskampfmittel angesichts der drastischen Teuerung von Lebenshaltungskosten genügen, um die Bedürfnisse von Arbeiter*innen zu sichern, ist auch heute von Belang. Gleichermaßen stellt sich die Frage nach einem Organisationsmodell, das in der Lage wäre, langlebige Mitgliedschaften aufzubauen, ohne dass sich eine Funktionärsoligarchie herausbildet. Und wie gelingt gewerkschaftliche Demokratie, die von der Mitgliederbasis ausgeht und gleichzeitig die Funktionalität und Schlagkraft des Apparates erhält? Das Antippen dieser Debatten interessiert, werden doch aktuell Arbeitskämpfe, Streiks und die Praxis von Gewerkschaften heiß diskutiert.

So schlüssig und vielschichtig Ehms ihre Argumentation für den herrschenden Pragmatismus der FAU-D entfaltet, so sehr hallt am Ende die offengelassene Frage nach, warum eben all die »Nähe zu den Betrieben und Arbeiter*innen nicht dazu geführt (hat), sich als Massengewerkschaft langfristig zu etablieren«.

Christian Lelek

ist Journalist und aktives Mitglied der FAU Berlin.

Jule Ehms: Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis. Die Betriebsratsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933. Westfälisches Dampfboot, Münster 2023. 371 Seiten, 40 EUR.