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Falsche Avantgarde

Christopher Nolans Film »Oppenheimer« soll experimentell sein, bleibt aber unter seinen Möglichkeiten

Von Özgün Kaya

Ein Mann mit Hut und Anzug auf einer Veranda, der eine Pfeife in der Hand hält, dahinter Wüste
Mit Pfeife und Hut auf dem Weg zur Atombombe: J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy). Foto: Universal Pictures

Oppenheimer« ist kein Spektakel wie andere Arbeiten von Nolan etwa Inception oder Interstellar, sondern ein Film über einen getriebenen, zweifelnden, aber interessanterweise standhaften Mann namens Julius Robert Oppenheimer: bekannt als ein Physiker, der maßgeblich an der Entwicklung der ersten Atombombe beteiligt war, unbekannt als Advokat der Arbeiter*innenbewegung, der die antifaschistischen Kräfte im spanischen Bürgerkrieg finanzierte, Wissenschaftler an seinen universitären Arbeitsstätten zur gewerkschaftlichen Organisation drängte und sich gegen die antisowjetische Geopolitik der US-Regierung stellte. Es ist bemerkenswert, dass Nolan Oppenheimers Sympathie für die kommunistische Sache weder marginalisiert noch umzudeuten versucht, auch wenn in einer kleinen Szene Marx und Proudhon verwechselt werden – so viel und nur soviel sei Hollywood verziehen.

Er nutzt die kreative Umgestaltung des Stoffes, um das schwache Drehbuch zu kaschieren.

Die Person Oppenheimer wird als ein von Visionen geplagtes, junges Genie eingeführt, den die praktische, experimentelle Physik begrenzte und der erst in der theoretischen Physik die Grenzenlosigkeit seines Verstands ausspielen konnte. Interessanterweise verweist Nolan in Interviews, angesprochen auf seine Präferenz praktischer statt digitaler Effekte, auf die aus seiner Sicht Grenzenlosigkeit des Realen hin, denn der digitale Effekt strebe laut Nolan großenteils eine Simulation des Realen an. Dieser Vorzug des vermeintlich realen, wahren ist in zwei weiteren Aspekten des Films zu beobachten: darin, dass es sich hierbei um ein Biopic, also ein Werk über eine historische Person handelt und dass der Film analog auf sogenannten 15/70mm-IMAX-Filmrollen produziert wurde.

Neue Sichtweisen

Wahrhaftigkeit bleibt der Film allerdings schuldig. Zwar ist dem Genre des Biopics selbstverständlich eine künstlerische Freiheit überlassen, die Geschehnisse ahistorisch darzustellen, Zitate aus Kontexten zu reißen, aber dies auch nur im Rahmen einer Nachvollziehbarkeit, einer kreativen Sinnhaftigkeit. Martin Scorseses Bearbeitung der Verflechtungen um Gewerkschaft, Politik und Mafia Mitte des 20. Jahrhunderts, wie in »The Irishman« dargestellt, ist ein positives Beispiel der unwahren Geschehnisse im Sinne einer cineastischen Wahrhaftigkeit. Nolan tritt hier jedoch als Negativbeispiel hervor. Er nutzt die kreative Umgestaltung des Stoffes, um das schwache Drehbuch zu kaschieren. So lässt er Albert Einstein zum Stichwortgeber der Hauptfigur werden, der an jeder Straßenecke nur darauf lauert, Oppenheimers Gedanken zu sortieren und die nächste Szene einzuleiten: Einstein-Ex Machina.

Enttäuschend ist auch die Umsetzung des speziellen 15/70mm-IMAX-Formats. Dieses Filmformat ist in Dokumentationen üblich, da es die bestmögliche Auflösung und damit das schärfste Bild auf großer Leinwand ermöglicht. Im Ergebnis ist das Bildformat quadratischer als Projektionen handelsüblicher Filmvorführungen und zeigt mehr Höhe. Sofern ein Kino mit einer passenden Leinwand und einem entsprechenden Filmprojektor ausgestattet ist, umfasst das 15/70mm-IMAX-Bild die gesamte Leinwand und übermannt das Kinopublikum. Ein Effekt, der gekonnt genutzt werden kann und mit dem in der Bildkomposition experimentiert werden könnte. Jedoch bleibt Nolan auch dies schuldig. Seine Nutzung dieses speziellen Formats bleibt konservativ. Während beispielsweise Quentin Tarantino im Zuge seines Films »The Hateful Eight« ein anderes spezielles 70mm-Format wählte, das ein besonders weites Bild zeigte und dies unüblicherweise für Innenaufnahmen statt weiter Außenaufnahmen nutzte, zentriert Nolan das Bild in seinem eher quadratischen Format und lässt die Kamera schlicht funktional arbeiten, statt wie Tarantino die Sehgewohnheiten des Publikums herauszufordern. Das Marketingsversprechen des besonderen Filmformats in Nolans »Oppenheimer« läuft damit ins Leere.

Auch zwang Tarantino den zuständigen Filmverleih zum existierenden, kleinen Bestand weitere 70mm-Projektoren ausfindig zu machen, zu restaurieren und Kinos bestmöglich bereitzustellen sowie pensionierte Filmvorführer*innen für diese Sondervorführungen ausfindig zu machen und neue Vorführer*innen in der Handhabung mit dem besonderen Film auszubilden. Ein Minusgeschäft für die Industrie, wovon die Filmkultur und -kunst jedoch profitierte.

Im Gegensatz dazu kommen sehr wenige Menschen bis nahezu relativ niemand in den Genuss des großen Formats von »Oppenheimer«, denn 15/70mm-IMAX kann mangels Projektoren weltweit nur in circa 30 Kinos gezeigt werden. Die benötigten Filmprojektoren werden nicht mehr produziert und sind in der Anschaffung unprofitabel. Sollte ein Projektor vorhanden sein, so ist dennoch die Aufbereitung der 18.144m langen und 255 kg schweren Filmrolle eine weitere Herausforderung, die sich die meisten Kinos nicht leisten können. Sie müssten ausgebildete Filmvorführer*innen eingestellt haben, die die 53 Filmrollen  auseinanderspulen, händisch schneiden und zusammenflicken und auf die überdimensionale Projektorrolle einspielen.

Anstelle dessen ist die Vorgehensweise der digitalen Vorführung eines industrieüblichen Projektors per einfachem Knopfdruck finanziell vorteilhafter. Und deswegen zeigen die meisten Kinos »Oppenheimer« in einem digitalen Format, das auf ihren Projektoren funktioniert, was dazu führt, dass um die 40 Prozent des Gesamtbildes abgeschnitten werden, um die kleinere Leinwand weiterhin füllen zu können. Dieser Umstand zwang Nolan und sein Kamerateam sicher auch dazu, so viel wie möglich im erhaltenen mittleren Feld des Bilds aufzunehmen. Letztlich kehrt sich Nolans gepriesene Grenzenlosigkeit des Analogen, Praktischen, vermeintlich Realen in ihr Gegenteil um. Damit liefert Nolan ein fades Kinoerlebnis.

Macht in der Industrie

Zusätzlich nutzte Nolan seine exponierte Stellung in der Filmindustrie. Enttäuscht von der parallelen Kino- und Streamingveröffentlichung seines letzten Films »Tenet«, brach er nach 20 Jahren die Zusammenarbeit mit dem Filmstudio Warner Bros. ab und wechselte zu Universal. Dabei handelte er unter anderem aus, dass »Oppenheimer« für 100 Tage exklusiv nur in Kinosälen gezeigt werden darf statt der mittlerweile üblichen kurzen 30 Tage. Mag das verlängerte Exklusivrecht des Kinosaals erstmal enthusiastisch stimmen, betrübt die Stimmung doch mit Blick auf die gesamte Lage der Filmindustrie. Erst Nolans langjährige finanziellen Erfolge ermöglichten ihm diese privilegierte Behandlung.

Anstatt eines Siegs der vermeintlichen Filmkunst im andauernden Konflikt zwischen Kunst und Industrie, ist die lange Verweildauer von Nolans Film im Kino nichts weiter als ein Deal zwischen zwei Geschäftspartnern. Vielleicht wird Nolans Druck auf die Industrie dazu führen, dass sich das ästhetische Spektrum erweitert, aber das zu erleben, wird wahrscheinlich eine Frage des Geldbeutels. Wenn überhaupt, werden die großen, finanzstarken Kinobetreiber*innen luxuriöse Vorführungen in Großformat einführen und die kleineren Liebhaber*innen-Kinos und das gemeine Publikum ausgegrenzt. Nolan führt das Kinoerlebnis zurück in elitäre Zeiten der angeblichen Hochkultur und wird doch als Speerspitze der populären Filmkunst angesehen. Es ist – um ein Zitat aus »Oppenheimer« zu paraphrasieren – paradox, und doch funktioniert es. Leider.

Özgün Kaya

ist freier Autor, Filmkritiker und gewerkschaftlich aktiv.