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Facebook vs. Anonymous

Selbstvermarktung und Subversion im Netz

Von Carolin Wiedemann

Das Netz war und ist eine Projektionsfläche für die Ideen der Emanzipation. Schon 1996 verkündete John Perry Barlow die Unabhängigkeit des Cyberspace: »Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen.«

Doch sieht das Netz im Jahr 2012 anders aus, als Barlow es sich einst vorstellte: Es wird zunehmend von Werbung und Markenbildung durchdrungen. Und die User*innen machen mit. Facebook, das meist genutzte soziale Netzwerk, steht für eine mehrfache Ökonomisierung: Die User*innen müssen attraktiv sein für all die potenziellen »Freunde«, für das Publikum. Der Medienphilosoph Norbert Bolz erklärt dies damit, dass das Internet für junge Leute heute die Plattform für Selbstvermarktung sei. Man müsse sich in den neuen Medien prägnant wie eine Marke präsentieren, ein fortwährendes »brand yourself« betreiben.

Diejenigen, die die Befreiung durch das Web 2.0 proklamierten, haben die alltägliche Praxis der Akteure, die das Web 2.0 nutzen und es gleichermaßen schaffen, ignoriert. Sie haben sich die UserInnen wie Neugeborene im Cyberspace vorgestellt. Doch entspricht auch jene Welt, die einst »virtuell« genannt wurde, den Bedingungen der Welt, in der sie täglich produziert wird.

Der »biopolitische Kapitalismus«, wie der aktuelle Zustand von einigen postoperaistisch und poststrukturalistisch orientierten WissenschaftlerInnen bezeichnet wird (siehe Fantômas Nr. 2 von Winter 2002) geht auch mit dem Wandel der Arbeitsverhältnisse einher, mit dem Wechsel von der Industrie- zur Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, vom Fordismus zum Postfordismus. In Anlehnung an Foucaults Analysen ist vielfach von der Ökonomisierung des Sozialen die Rede. Das unternehmerische Selbst hat sich etabliert.

Social-Media-Angebote fördern die Konkurrenz

Aktuelle Social-Media-Angebote mit ihren Möglichkeiten zur Selbstdarstellung fördern Sichtbarkeit und Konkurrenz. Sie fordern User*innen auf, sich möglichst attraktiv zu präsentieren – die Einnahmen aus dem Verkauf der persönlichen User-Daten fließen an Firmen wie Facebook. Die User*innen sollen die eigene Persönlichkeit in einem Leistungsvergleich mit anderen ausstellen, ihr Profil, ihre »Identität« ununterbrochen vor den anderen vermarkten.

Die Technologie kann dennoch keinesfalls nur als der Spiegel des Sozialen gelten, sie hat eine eigene Wirkung. Das Netz ist zwar verwoben in gegenwärtige Machtverhältnisse. Es stellt jedoch erstmals eine nichtstaatliche Sphäre zur Verfügung, in der Kooperation durch das zeitnahe und zeitlose Teilen und den Austausch gemeinsamer Ressourcen ermöglicht wird. Hierin besteht die Subversion der Selbstvermarktung: Das Netz ist eine Sphäre, in der anonym kommuniziert werden kann.

Um das subversive Potenzial der anonymen Kommunikation im Netz zu diskutieren, drängt sich ein aktuelles Beispiel auf: Anonymous.

Anonymous tauchte zum ersten Mal auf 4chan auf, einer Onlineplattform, die keine Einrichtung von Profilen zulässt, dafür aber den anonymen Austausch von allem Möglichen erlaubt. Mit Aktionen wie der Anti-Scientology-Bewegung, der Kampagne für Wikileaks und der Unterstützung der Proteste in Ägypten und Tunesien hat Anonymous sich seitdem auch in den Mainstreammedien einen Namen gemacht. Um Einblick in neue Formen der Assoziierung und der Artikulation von Protest unter den Bedingungen der Informatisierung zu gewinnen, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Idee »Anonymous« – und darauf, wie sie das Gemeinsame denkt.

Während die Identitätsfixiertheit von Angeboten wie Facebook und Co. Konkurrenz und Hierarchien fördert, macht das Prinzip der Anonymität theoretisch alle gleich. Es geht Anonymous, so erklären diverse Texte, Videos und Bilder, die im Netz zirkulieren, um das Wohl aller Menschen, um deren Verbundenheit und Freiheit und den gleichen Zugang zu Informationen. Anonymous gibt sich aus als eine Gemeinschaft ohne Anführer*innen, an der alle Menschen gleichermaßen teilhaben können. Im diskursiven Raum des Internets mache das Pseudonym »Anonymous« all jene, die dabei sein wollen, zum Teil des Kollektivs; bei Aktionen auf der Straße tragen die Individuen eine Maske, die allen das gleiche Gesicht gibt. »Anonymous sein« bedeute, Identität und Repräsentation abzulehnen.

Anonymous gibt sich als Gemeinschaft ohne Anführer

Doch was, abgesehen von der Ablehnung von Identitäten und Repräsentation, schafft die Gemeinschaft, auf die sich Anonymus beruft? In einem der am weitesten verbreiteten Schriftstücke von Anonymous, »An Open Letter to the World«, heißt es: »Wir haben begonnen, uns unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Wir teilen unser Leben, unsere Hoffnungen, unsere Träume, unsere Dämonen. (…) Je mehr wir über unsere globale Community erfahren, desto deutlicher tritt eine grundlegende Wahrheit zu Tage: Wir sind nicht so unterschiedlich wie wir denken.«

Der Austausch ermöglicht also das Erleben der Gemeinsamkeit. Diese Selbstbeschreibung von Anonymous erinnert an das Theorem der Multitude von Michael Hardt und Toni Negri: Sowohl die Multitude als auch Anonymous stellen das repräsentationistische Konzept von Politik in Frage. Repräsentationslogiken basieren auf »Identitäten« von Menschen, sie spalten die Menschen in »Italiener«, »Frauen«, »Buddhisten« etc. Die dazugehörige Politikform ist die repräsentative Demokratie. Die Vertreter der Multitude und Anonymous stehen in Opposiotion zur Repräsentationslogik: Sie verorten den Widerstand nicht innerhalb der Strukturen der repräsentativen Demokratien. Sie befinden sich auf einer anderen Ebene als Parteien, Vereine, NGOs oder sonstige Institutionen.

Dabei erweitert Anonymous das von Hardt und Negri vorgeschlagene Konzept: Hinsichtlich der Multitude stellt sich die zentrale Frage, wie das Gemeinsame unter Wahrung der Differenz hergestellt werden kann. Darauf antwortet Anonymous: durch die spontane, anonyme Kommunikation und Kooperation im Netz. Wenn es in der Video-Botschaft von Anonymous zur Unterstützung der Proteste in Ägypten »We are all anonymous and anonymous unites us all« heißt, dann wird damit eine herkömmliche Repräsentationslogik unterlaufen und gleichzeitig eine neue geschaffen. Die ausgerufene Einigkeit ist flüchtig, sie existiert nur in der Tat, sie lässt die Identitätspolitik hinter sich. Theoretisch ist die Kollektivität Anonymous schwarmartig, besteht nur in der Online-(Ko-)Operation. Aber was passiert, wenn sich jene Kollektivität stabilisiert, also nicht mehr nur vereinzelt als Schwarm im Netz auftaucht? Wenn sich Muster und Räume herausbilden?

Anonymous behauptet, hierarchiefreie Kommunikationsräume zu schaffen, indem einfach anonym kommuniziert wird. Damit wird zwar verhindert, dass identifizierbare InitiatorInnen und besonders aktive UserInnen entscheiden, was sag- und sichtbar ist. Doch frei von Machtverhältnissen ist das Netz damit noch lange nicht.

Der Philosoph Gilles Deleuze hat die These aufgestellt, dass die Steuerungsmechanismen den Kommunikationsprozessen selbst immanent sind. Form und Ausdruck von Anonymous sind an den Rahmen gebunden, den SystemadministratorInnen, IT-Infrastrukturen und das Protokoll vorgeben. »Hacken« heißt, das Protokoll umschreiben. Aber wer kann das schon? Sicher nicht alle, die Anonymous vernetzen will – also »alle Menschen«. Nicht erst der ungleiche Zugang zu Schulungen zum Programmieren von Hard- und Software setzt Herrschaftsverhältnisse in den digitalen Netzwerken fort. Die berühmte Spivaksche Frage »Can the subaltern speak?« ist nicht nur eine Frage des Zugangs zu den Tastaturen, die die Stimmen ins Netz fließen lassen. Ebenso geht es um die Hierarchien und Hegemonien in der Kommunikation, beim Mitteilen und Verstehen – kurz: um die Ausschlüsse, die auch produziert werden, wenn scheinbar alle in der Anonymität die gleiche Stimme haben.

Auch diejenigen, die sich als Anonymous im Netz versammeln, sind keine Neugeborenen im Cyberspace. Treffen sie häufiger zusammen, wird der Schwarm zur Wiederholung, verliert er seine Logik. Repräsentationslogiken kehren als stabilisierendes Prinzip zurück. Dann ist es vorbei mit der Idee einer Gemeinschaft, die weder nach innen homogenisiert noch nach außen ausschließt.

Wie kann ein Jenseits der Repräsentation aussehen?

Doch auch wenn Anonymous die Erwartungen an dezentrale und grenzenlose Vernetzung nicht erfüllen kann, offenbart jene Erscheinung die Herausforderungen an neue Formen von Kollektivität. Die Frage nach dem »Jenseits der Repräsentation« stellt sich in doppelter Hinsicht: als eine der Darstellung und eine der Politik. Wie kann Kollektivität identitätslos gedacht, wie das Besondere im Gemeinsamen berücksichtigt werden? Wie kann Individualität unterschieden, aber nicht hierarchisiert werden?

Die Grenzen des Gemeinsamen liegen in der Vorstellung dessen, was Politik ist: ein andauernder Wettstreit verschiedener Interessensgruppen. Die Unterscheidung in Freund und Feind, Wir und Sie. Identitätslogiken und Antagonismen bilden in den etablierten theoretischen Konzepten und dementsprechend im alltäglichen Geschäft die Basis des Politischen. Jene Mechanismen holen auch diejenigen ein, die sich davon befreien wollen.

Darüber hinaus haben wohl sowieso nicht »alle« Lust auf diese Befreiung und das Projekt des Gemeinsamen. Gegenwärtige Herrschaftsverhältnisse, die die Produktionsverhältnisse und die Verteilung der Güter, also auch die Verteilung der modernen Kommunikationsmittel auf der Welt bestimmen, brauchen und fördern Identitätspolitik. Der »biopolitische Kapitalismus« verlangt nach ausbeutbaren Identitäten. Das Denken in Wir und Sie wie auch die Aufteilung der Welt in privat und öffentlich, in private und öffentliche Güter, hängen zusammen. Das Projekt des Gemeinsamen stellt beide in Frage.

Anonymous als Idee für ein Projekt des Gemeinsamen, das auf dem anonymen Onlineaustausch basieren soll, kann mehr als ein Beispiel für den Gegenpart zu Facebook sein. Anonyme Netzpolitiken unterlaufen die Gesichtsversessenheit des Kapitals und werfen gleichzeitig Fragen nach neuen Formen des Politischen auf. Social Media sind nicht »sozial«, weil sie die Bildung sozialer Bewegungen stärken. Sie sind überhaupt nur dann sozial, wenn sie unsere Vorstellung des Sozialen grundlegend berühren, vielleicht sogar erschüttern.

Carolin Wiedemann

ist Soziologin und Journalistin. Sie schreibt vor allem über Geschlechterverhältnisse, digitalen Kapitalismus und Rechtspopulismus. Von ihr erschien zuletzt das Buch »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats« im Verlag Matthes & Seitz.