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»Es gibt den dringenden Ruf nach aktiver Erinnerung«

Talya Feldman über solidarische Widerstandspraxen und Vielstimmigkeiten in Erinnerungsdiskursen

Interview: Nina Schulz

Blick in die Ausstellung »The violence we have witnessed carries a weight on our hearts«. Foto: Yves Sucksdorff. Jüdisches Museum Berlin

In ihrer aktuellen Arbeit macht Talya Feldman die Klanglandschaften der Solidarität, des Widerstands und Erinnerns hör- und sichtbar und vermittelt die Verbundenheit unter den Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Im Interview erläutert die Medienkünstlerin, was diese Vervielfältigungen und Vertonungen der Betroffenenperspektive für eine Veränderung von Erinnerungspraxen und -diskursen bedeuten kann.

Herzlichen Glückwunsch zum 2. Dagesh-Kunstpreis, den du im Mai dieses Jahres für dein Werk »The Violence we have witnessed carries a weight on our hearts« erhalten hast. Bitte erzähle uns über deine Arbeit.

Talya Feldman: Es ist eine Klanginstallation mit 18 Kanälen, eine Sammlung, ein Archiv von Sprachnachrichten, die von Überlebenden und Familien von Opfern und Initiativen, die gegen den rechten Terror kämpfen, geschickt wurden. Wegen der Pandemie konnten sie nicht persönlich zusammen sein und haben diese Botschaften der Solidarität und Resilienz miteinander geteilt: von Stadt zu Stadt, von Zeit zu Zeit, an Gedenktagen, an Gerichtstagen, an Protesttagen. Die Bandbreite der Stimmen umfasst Gewalttaten aus 18 verschiedenen Städten, die sich in den letzten 40 Jahren in Deutschland ereignet haben. So kann die Kontinuität der Gewalt betrachtet und der Opfer gedacht werden, aber durch die Stimmen derer, die für die Erinnerung und für Veränderungen kämpfen. Deswegen ist es ein lebendiges Archiv: weil diese Stimmen weiterkämpfen, weil die Gewalt weitergeht.

Die Botschaften sind Klanglandschaften der Verbundenheit, des Widerstands, des Erinnerns, während sie gleichzeitig von der Kontinuität rechter Gewalt sprechen.

Für mich war es sehr wichtig, die Informationen und Daten zu visualisieren, so dass die Zusammenhänge zwischen diesen Gewalttaten verstanden werden, damit sie verhindert werden können. Wenn wir diese Zusammenhänge nicht sehen können, es diesen Mythos eines Einzeltäters, eines einzelnen Angriffs gibt, schadet uns das. Es erlaubt uns nicht, den Ursachen dieser Gewalt nachzugehen und die Strukturen innerhalb der Gesellschaft anzuerkennen, die diese Gewalt zulassen. Es hindert uns daran, die Stimmen zu verstärken, die am wichtigsten sind. Indem ich diese Kontinuitäten betrachte und die Daten und Informationen präsentiere, möchte ich auch die Narrative infrage stellen, die um die Opfer und die Täter herum aufgebaut werden, indem sie die Täter über die Opfer und die Familien erheben. Das möchte ich ändern, damit wir dieser Gewalt ein Ende setzen können.

Kannst du mehr über die Materialität deiner Ausstellung erzählen?

Ich stelle sie mir wie eine Landkarte vor. Alle Stimmen werden als Lautsprecher präsentiert, die mit Smartphones verbunden sind, die die Schallwellen der Stimmen abspielen. Die Schallwellen sind ein Symbol für Kontinuitätslinien, wie eine Zeitlinie. Aber ich sehe sie auch als Herzschläge. Wenn eine bestimmte Stimme abgespielt wird, die mit einem Überlebenden oder einer Familie eines Opfers des rechten Terrors in Verbindung steht, verschiebt sich die Animation der Schallwellen. Es sieht mehr wie ein Puls eines Herzmonitors aus. Wenn es sich um eine alternative Stimme handelt, wie eine Initiative oder Menschen, die von Diskriminierung, aber vielleicht nicht so direkt von einer bestimmten Gewalttat betroffen sind, sehen die Wellen mehr wie das Auf und Ab von Sprachnachrichten aus. Die Lautsprecher und Telefone sind in 18 Gerüstnetze eingebettet, die vom Boden bis zur Decke hängen. Es gibt ein leeres Netz, um darauf hinzuweisen, dass nicht alle Stimmen in dieser Arbeit präsent sind und die Kontinuität der Gewalt darzustellen, die wir leider erleben. Auf den Netzen sind die Stadtpläne aufgedruckt und entsprechend der Deutschlandkarte innerhalb des Jüdischen Museums installiert, von Süd nach Nord. Die ersten Orte sind München und Erlangen, dann geht es den ganzen Weg zurück nach Hamburg, Lübeck und Mölln.

Deine Installation ist sehr polyphon. Ist diese vielstimmige Realität wichtig für dich?

Sie weist auf die Macht dieser Stimmen hin. Ich zitiere Nissar Gardi, die sagte, die Forderung, dass Deutschland anerkennt, dass es eine Migrationsgesellschaft ist, ist in diesem Sinne ein Akt des Widerstands und weist auf die Tatsache hin, dass es hier so viele Stimmen gibt, die deutsche Stimmen sind. Egal, woher sie ursprünglich kamen, sie sind hier. Das zu erkennen und zu erkennen, dass diese Stimmen und Sprachen es verdienen, nicht nur gehört zu werden, sondern ihnen zugehört wird, war wichtig für mich. Es soll nicht heißen, dass in dieser Vielstimmigkeit und Zusammenführung all dieser Stimmen, diese Erfahrungen und diese Menschen gleich sind. Im Gegenteil, trotz der Unterschiede und der verschiedenen Leben, Erfahrungen, Hoffnungen und Träume stehen wir auf dieser gemeinsamen Basis: Das ist der Kampf gegen den rechten Terror, der Kampf für das Gedenken, der Kampf für eine bessere Zukunft für uns alle.

Ich hoffe, die Menschen, die die Ausstellung besuchen, verbringen Zeit damit, wirklich zuzuhören.

Tayla Feldman

Du sagst auch: »Diese Botschaften stellen sich über die Idee, wie ein Opfer ist. Ibrahim Arslan sagt: ›Wir sind die Hauptzeugen des Geschehenen‹.« Kannst du uns mehr über diese Neudefinition von Opferschaft erzählen?

Ibrahim sagt es sehr gut. In der Vorstellung, ein Opfer sei schwach, passiv, werden die Stimmen der Opfer so oft beiseite geschoben und in diesen Erzählungen ausgelassen. Das ist absurd, denn hier sind die Menschen, wie Ibrahim sagt, die Hauptzeugen für das, was passiert ist. Sie waren dort. Sie haben es erlebt. Trotzdem stehen sie hier und sprechen und benutzen ihre Stimmen, um zu kämpfen. Die Sprache und die Identität, die die Gesellschaft Opfern und der Opferrolle gegeben hat, muss sich ändern. Das machen die Stimmen in dieser Arbeit: Sie gehen darüber hinaus, indem sie sich das Etikett des Opfers wieder aneignen und umdeuten.

Foto: privat

Talya Feldman

geboren in Denver, Colorado, ist eine zeitbezogene Medienkünstlerin, die derzeit in Hamburg arbeitet, an der Hochschule für bildende Künste studiert und ihren B.F.A. von der School of the Art Institute of Chicago erhielt. Ihre Kunst wurde in Chicago, New York, Hamburg, Frankfurt am Main und Berlin ausgestellt. Als Überlebende des rassistischen und anti­semitischen Anschlags in Halle am 9. Oktober 2019 erhielt sie Anerkennung für ihre nach­folgenden Projekte gegen rechte Gewalt in Zusammen­arbeit mit dem Netzwerk NSU-Watch.

https://www.talyafeldman.net/

Welche anderen Diskurse möchtest du stören?

Um auch einige der Stimmen zu zitieren, die sagen, Erinnern heißt kämpfen, Erinnern heißt verändern. Das, was sie sagen, und auch nur die Aufforderung an Menschen, zuzuhören, ist ein Teil dieses Widerstands. Wenn Menschen wirklich zuhören, wirklich hören, worum sie bitten, was sie fordern, dann können wir uns eine Alternative zu dieser Gewalt vorstellen und verwirklichen. Wir können auf Veränderung drängen und diese Veränderung erreichen, wenn wir uns nur wirklich anders auf die Welt einstimmen. Es gibt diesen dringenden Ruf nach Erinnerung, aber nicht nach passiver Erinnerung, sondern nach aktiver Erinnerung an Veränderung und Kampf.

Was bedeuten diese Botschaften für dich als Ausdruck dieses zeit- und raumübergreifenden Gedenkens, des Widerstands und des Community-Buildings?

Ich habe die meisten dieser Stimmen nie persönlich getroffen. Trotzdem haben so viele von ihnen am letzten Tag des Gerichtsurteils mit mir und anderen in Halle Sprachnachrichten geteilt. Sie schickten diese Nachrichten, weil sie es wussten und uns zeigen wollten, dass sie bei uns stehen, auch wenn wir sie nie getroffen haben. Die Stimmen und die Botschaften, die sie geschickt haben, haben uns allen so viel bedeutet, besonders an diesem Tag und auch danach. Allein der Akt, eine Nachricht an jemanden zu senden, der einen nicht kennt, der aber diese Unterstützung und Solidarität braucht, ist ein Akt des Widerstands und der Stärke. In gewisser Weise wurde die Arbeit auch ein Weg, meine Dankbarkeit zu zeigen. Eine Hommage an sie und an diese Kraft, diese Botschaften nicht nur mit mir zu teilen, sondern auch mit anderen über Zeit und Raum hinweg. Du spürst den Schmerz, aber siehst auch etwas: die Fähigkeit, sich gegenseitig zu erreichen. Aus verschiedenen Orten und verschiedenen Zeiten und trotzdem zueinander zu stehen und diesen Schmerz zu erkennen. Es ist einfach dieser Widerstand, diese Unverwüstlichkeit, die Stärke, diese Fähigkeit, niemals aufzugeben und niemals zu vergessen und weiterzumachen. Das sehe ich in allen von ihnen. Es hat nicht lange gedauert, bis auch ich und andere aus Halle begannen, unsere eigenen Botschaften mit anderen über Zeit und Raum hinweg zu teilen, für ihre Gedenkfeiern, ihre Gerichtstermine und ihre Protesttage. Ein Teil dieser Art von Netzwerk zu sein, war ein Heilungsprozess, aber es bot auch einen Weg, eine Ermächtigung, die ich vorher nicht hatte.

Welche Rolle spielen diese Akte der Solidarität und Vielstimmigkeiten für die Zukunft?

Ich hoffe, die Menschen, die die Ausstellung besuchen, verbringen Zeit damit, wirklich zuzuhören. Dass sie darüber nachdenken, was diese Stimmen sagen, wessen sie gedenken, warum, wofür sie kämpfen, was sie sich für die Zukunft erhoffen, dass es mehr Menschen ermutigt, sich diesem Kampf anzuschließen. Sich auf diese Narrative zu konzentrieren und nicht auf die Narrative, die so oft in den Medien oder sogar von städtischen Beamten und Gerichten präsentiert werden, dass wir die Veränderung schaffen können, die wir alle brauchen. Das erste, was Ibrahim zu mir sagte, war, unser Kampf und unser Widerstand gehören zusammen. Das gilt auch für die Ausstellung.

Nina Schulz

ist writer and word nerd und lebt in Hamburg.

Die Ausstellung ist noch bis zum 1. August zu sehen.