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Die fabelhafte Welt des Russell Brand

Die Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen den Schauspieler sind nicht neu, jahrelang schützte ihn der mediale Mainstream

Von Jacinta Nandi

Ein blau angestrahltes Gebäude aus Glas
Hier musste der Komiker lange keine Konsequenzen fürchten: öffentlich-rechtlicher Rundfunk BBC. Foto: Zizzu02/ Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Ich gehöre definitiv nicht zu den Leuten, die stolz erzählen können, wie unsympathisch Russell Brand ihnen immer gewesen ist. Vom ersten Augenblick, in dem ich von ihm erfuhr (Wie sonst nur bei den Spice Girls, erinnere mich daran genau, mir erzählte damals jemand, dass ein TV-Moderator gefeuert worden ist, weil er an dem Tag nach 9/11 wie Osama Bin Laden sich auf Arbeit verkleidet hatte.), wirkte er auf mich: aufregend, faszinierend, glamourös – und wichtig.

Ich finde es aber ein bisschen irreführend, Brand als Komiker zu bezeichnen. Er war ein Stage School Kid, ein talentiertes Kind aus der Arbeiter*innenklasse, das durch (über)ambitionierte Eltern (Pushy Mums sagen wir genderspezifisch im Vereinigten Königreich dazu) in Theaterschulen geschickt worden ist, um Tanzen und Schauspielerei zu lernen. Ich kenne diese Kinder – ich bin mit Lady Mary aus Downton Abbey zur Schule gegangen – ich verstehe diese Familien. Brand war immer mehr Show als Comedy. Ein Komiker, der immer Hilfe beim Schreiben bekam und der auf der Bühne brillant, fabelhaft, übertrieben war. Ein Radiomoderator und Schauspieler, der sehr schnell Erfolg in Hollywood hatte.

Russell Brand ist ein mächtiger Mann, der seine Macht und seinen Reichtum benutzt hat, um vor Konsequenzen zu flüchten.

Fabelhaft ist ein wichtiges Wort, denke ich, um Russell Brands Erfolg und auch seinen energetischen Charme zu verstehen: Die Comedyshows im Vereinigten Königreich zu der Zeit, den frühen 2000er Jahren, in denen er berühmt geworden ist, waren, ob im TV oder im Hinterzimmer einer alten Kneipe zu sehen, sehr misogyn und frauenverachtend. Brands Stand-Up war genau so hässlich wie alle anderen, aber er selbst wirkte queer, bevor queer als Begriff rehabilitiert wurde. Exzentrisch sah er aus, zu viel Eyeliner, zu viele Haare, die enge Jeanshose – er hatte immer ein bisschen Peacock Vibes. Er prahlte. Er prahlte damit, sexsüchtig zu sein, drogensüchtig gewesen zu sein, irgendwie anders zu sein. Er war brillant.

Endlich öffentlich

Am 16. September dieses Jahres veröffentlichte der britische TV-Sender Channel 4, gemeinsam mit den konservativen Zeitungen The Times und The Sunday Times, eine Recherche über Brand und sexualisierte Gewalt. Die Vorwürfe haben mich persönlich total schockiert, zutiefst erschüttert – obwohl sie nicht die ersten sind, die ihn mit Vergewaltigungen in Verbindung bringen. 2006 soll eine Frau in einer von ihm gemieteten Wohnung von einem seiner Radiokollegen vergewaltigt worden sein – es kam nie zum Gerichtsprozess, obwohl die Polizei ermittelt hatte. 2008 rief Brand als Teil einer Comedyshow bei einem Hilfetelefon für Opfer von Vergewaltigungen an, als Telefonstreich, live auf der Bühne. 2014 wurde er von einer Massagetherapeutin beschuldigt, sie sexuell belästigt zu haben. Und auch in seinem ersten Buch beschreibt er, wie er einer Frau ins Gesicht gespuckt hat.

Aber bis zur Ausstrahlung von Channel 4 schwamm er immer wieder den Konsequenzen davon: Seine Hollywoodkarriere ging immer weiter, dann wurde er zum Wellnessguru, später »ein bisschen links«. Bevor er am Ende als fast rechtsradikaler Verschwörungstheoretiker auf YouTube landete. Brand betonte dort immer wieder, nur Fragen zu stellen, in Videos, die mir sehr lang vorkamen und überhaupt nicht unterhaltsam waren.

Die Frauen in der Sendung haben ihre Vorwürfe sehr glaubwürdig und plausibel geschildert. Rachel, Alice, Nadia und Phoebe beschreiben Ereignisse von sexualisierter Gewalt, die zwischen 2006 und 2013 stattgefunden haben. Alice behauptete, sie sei mit Brand im Alter von 16 Jahren (legal im Vereinigten Königreich) in eine emotional gewalttätige Beziehung verwickelt gewesen. Sie beschreibt jetzt, als erwachsene Frau, das, was passiert ist, als Grooming. Alice berichtet, wie BBC-Dienstwagen sie von der Schule abgeholt haben, um sie zu Russells Wohnung zu chauffieren. Nadia beschreibt eine Vergewaltigung aus dem Jahr 2012. Ein Erlebnis, das dazu führte, dass sie drei Monaten lang in einer stationären Einrichtung Therapie machte.

Nachdem die Vorwürfe ans Licht kamen, waren sofort die Rufe nach der Unschuldsvermutung zu hören. Bei den Vorwürfen gegenüber Rammstein passierte ähnliches, aber diese Leute scheinen nicht zu checken, dass Unschuldsvermutung bedeutet, dass wir nicht jeden, dem eine Vergewaltigung vorgeworfen wird, direkt ins Gefängnis werfen, ohne Prozess. Aber die Freunde der Unschuldsvermutung heutzutage sehen das anders: Für sie bedeutet Unschuldsvermutung nur, dass man, egal wie viele Frauen jemandem etwas vorwerfen, bevor er im Knast sitzt, diese Frauen alle als geldhungrige Lügnerinnen bezeichnen zu dürfen. Eine Unschuldsvermutung für Vergewaltigungsopfer gibt es anscheinen nicht.

Ein guter Kumpel aus der Uni ruft mich an. Er sagt mir, ein anderer Kumpel schreibe die ganze Zeit bei Facebook, dass Russell Brand unschuldig ist und die Biden-Administration diesen Mädchen alles bezahlt hat, um von den Wahrheiten abzulenken, die bald rauskommen würden.

»Über Pfizer?«, frage ich.

»Oder die Google-Steuer?«, sagt er, unsicher.

Der Kumpel, der anruft, ist oft anstrengend, ehrlich gesagt, aber beim Thema sexuelle Gewalt komischerweise immer okay.

Die paranoiden Fantasien der Brand-Verteidiger, warum er jetzt – gerade jetzt – zum Schweigen gebracht werden soll – sind sehr spezifisch, aber vor allem absurd. Viele von ihnen glauben, dass es um Pfizer geht – und um die »Wahrheit« über die Impffolgen durch das Coronavakzin, die er bald enthüllen wird. Man könnte sich fragen, wieso es nicht stimmen soll, dass Nadia in Los Angeles, Jahre bevor die Pandemie anfing, zur Therapie aufgrund des Übergriffs in eine Klinik ging. Brand-Verteidiger beschäftigen sich nicht mit solchen kleinen Details. Sie glauben lieber eine wilde Verschwörungstheorie als Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Brand selbst füttert die Verschwörungserzählung noch und fragt in seinem YouTube-Kanal: »Gibt es hier eine Agenda?«

Verschwörung allerorten

Ich gehe dann auf das Facebook-Profil unseres anderen Kumpels. »WACHT AUF LEUTE merkt ihr nicht, WER ihn jetzt beschuldigt und WARUM? Und WARUM JETZT? Wenn man die Timeline anschaut, ist ganz klar, dass man ihn zum Schweigen bringen will.«

Die Sache ist: Russell Brand kommt aus derselben Gegend wie ich – aus Essex, das ist fast in London. Essex ist voller konservativer Neureicher, eine Grafschaft, die nicht weiß, dass sie peinlich ist. Wenn die Leute Geld haben, stellen sie Löwen aus Stein in ihre Vorgärten, wenn sie kein Geld haben, liegen manchmal Steinlöwen und verbrannte Matratzen dort. Andere berühmte Menschen aus Essex: Bouddica, die Königin, die die Römer fast besiegt hat. Dick Turpin, der Dieb, den wir in Essex fast wie Robin Hood betrachten. Essex ist eine Grafschaft der Hochstapler*innen und Russell Brand kommt mir vor wie ein Hochstapler, der Karrieren gesammelt hat wie Identitäten. Jetzt positioniert er sich als Außenseiter – ein alleinstehender Wahrsager, der die großen Konzerne wie Pfizer ruinieren könnte. Der von den Mächtigen der Gesellschaft zum Schweigen gebracht werden soll.

»Es ist beleidigend«, sagt Alice zur BBC-Radio 4. »Es ist lächerlich, dass er implizieren will, dass das eine Verschwörung der Mainstreammedien ist. Er ist nicht außerhalb der Mainstreammedien. Letztes Jahr hat er einen Universal Pictures Film gemacht.«

Brand ist Teil des Mainstreams und es waren die Mainstreammedien, die ihn beschützt haben. 2008 hat er live im Radio der BBC damit angegeben, dass er gerade einer Rezeptionistin im Haus seinen Penis gezeigt hat. Als sich diese Frau 2019 bei der BBC gemeldet hat, um eine offizielle Beschwerde zu machen, ist sie ignoriert worden. Warum ausgerechnet jetzt?, ist die falsche Frage. Warum nicht damals? Das ist die Frage, die wir beantworten müssen.

Die Wahrheit ist: Russell Brand ist ein mächtiger Mann, der seine Macht und seinen Reichtum benutzt hat, um vor Konsequenzen zu flüchten. Er hat sich nicht versteckt – er hat im Rampenlicht ganz offen zugegeben, dass er Frauen nicht respektiert und Grenzen nicht anerkennt. Und die Polizei ermittelt.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).