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Freundschaft, Widerstand, Hoffnung

Der israelisch-palästinensische Dokumentarfilm »No Other Land« zeigt den israelischen Siedlungsbau und seine Folgen

Von Miryam Frickel

Zwei Personen, der linke mit Kapuze vor einer kargen Hügellandschaft
Sie filmen, und ihnen folgt die Kamera: Basel Adra und Yuval Abraham auf den Hügeln des Westjordanlandes. Foto: Antipode Films

Aus dem Off ruft die Stimme den Soldat*innen zu: »I’m filming you!«. Basel Adra, ein junger palästinensischer Journalist, Aktivist und Rechtsanwalt, filmt, wie die Wohnhäuser seiner Nachbar*innen zerstört und ihre Bewohner*innen vertrieben werden. Seit Jahren dokumentiert er so die schrittweise und völkerrechtswidrige Auslöschung der Dörfer seiner Heimatregion Masafer Yatta im Westjordanland, in der Hoffnung, dass Zeugenschaft und Bilder etwas bewirken können. Denn letztlich gehe es um Macht, so Adra: Wie vor einigen Jahren, als der ehemalige britischer Premier Tony Blair die selbstgebaute Dorfschule besuchte und wenige Tage später der israelische Abrissbefehl dafür vorerst gecancelt wurde.

Masafer Yatta steht seit 57 Jahren unter israelischer Militärbesatzung. Noch 2019, zu Beginn der Dreharbeiten für den Dokumentarfilm »No Other Land«, gab es in Masafer Yatta 19 Dörfer, in denen etwa 180 palästinensische Familien in den Hügeln südlich von Hebron lebten. In diesem Teil des Westjordanlandes haben die israelischen Behörden die alleinige Kontrolle über Siedlungsplanung und Raumordnung, das Gebiet ist von einer israelischen Sperranlage umzäunt. Israels rechtsextreme Regierungskoalition erhebt seit Beginn ihrer Amtszeit im Dezember 2022 deutlicher als vorherige Regierungen Anspruch auf das besetzte Westjordanland. Im Oktober 2023 endeten die Dreharbeiten; kurz vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober.

Der Film thematisiert Ungleichheit direkt, ohne dabei platt oder pathetisch zu werden.

Adra ist Teil des vierköpfigen palästinensisch-israelischen Kollektivs, dessen Dokumentarfilm »No Other Land« im Februar auf der Berlinale mit dem Panorama Publikumspreis und dem Berlinale Dokumentarfilmpreis prämiert wurde. Im Nachgang der Berlinale ging es der deutschen Berichterstattung allerdings kaum um den Inhalt des Films. Eher scheint der Diskurs dazu zu führen, dass nicht über das Thema des Films gesprochen wird, sondern darüber, wann genau Claudia Roth bei der Preisverleihung für wen geklatscht hat. Dabei hätte der Film eigentlich Besseres verdient.

Truppen statt Häuser

Das israelische Militär beansprucht Masafer Yatta für sich, es möchte das Gebiet als Truppenübungsplatz nutzen. Nach einem 23 Jahre andauernden Gerichtsverfahren entschied der Oberste Gerichtshof in Israel 2022, dass die Räumung der palästinensischen Bewohner*innen fortgesetzt werden dürfe. Der Abriss des Wohnhauses, mit der auch die Handlung des Films einsetzt, findet, wie die vieler anderer, allerdings schon vor dieser offiziellen Entscheidung statt: Eine Familie muss mitansehen, wie ihr Zuhause durch Bulldozer zerlegt wird. Viele Familien in der Region sind in Höhlen gezogen, nachdem ihre Häuser zerstört wurden.

Für Adra sind die Panzer und Bulldozer beinahe Alltag, er ist mit dem gewaltfreien Widerstand in seiner Region aufgewachsen, denn auch seine Eltern waren Aktivist*innen. Bei einer Räumung spricht ihn Yuval Abraham auf Arabisch an, ein israelisch-jüdischer Journalist und Filmemacher, der über die Vertreibungen berichtet. Er schreibt für die englischsprachige Onlinezeitung +972, seine Recherchen zur KI-gestützten Zielerfassung der israelischen Armee im Gazakrieg wurden hierzulande von Zeit und tagesschau.de aufgegriffen. Ein »Human-Rights Israeli«, kommentiert einer der Dorfbewohner trocken. Ob es irgendwen interessiere, was er da schreibe, fragt ein anderer: »To be honest, not many« gibt Abraham zu. Mit der Zeit besucht Abraham Adra immer öfter. Das Kollektiv besteht neben den beiden auch aus der israelischen Filmemacherin, Editorin und Regisseurin Rachel Szor und dem palästinensische Fotografen, Landwirt und Aktivisten Hamdan Ballal, die nicht selbst auftreten.

»No Other Land« ist für sie alle ihr erster Film. Es wird auf Archivmaterial von Protesten zurückgegriffen, Aufnahmen von Adras Handkamera vermitteln Unmittelbarkeit, die mit ruhigen Einstellungen kontrastiert werden, wenn die Bagger und Bulldozer nach getaner Arbeit hinter den Bergen verschwinden oder während längerer Unterhaltungen zwischen den beiden. Die Dialoge sind erstaunlich schonungslos, auch weil sie sich trotzdem durch den Willen zur Auseinandersetzung auszeichnen. Auf einer Autofahrt viele Monate später denkt Abraham laut darüber nach, dass ein Artikel über die Vertreibungen zu wenige gelesen wurde. Die Unterhaltung, die sich entfaltet, in der Adra seinem Freund milde aber klar zu verstehen gibt, dass der seine eigene Rolle überschätze, und es hier nicht um Held*innen gehe, ist einer der Momente, in denen ihre unterschiedlichen Betroffenheit deutlich werden.

»No Other Land« thematisiert Ungleichheit direkt, ohne dabei platt oder pathetisch zu werden. Es wäre deshalb nicht richtig, den Film auf die Geschichte einer unwahrscheinlichen Freundschaft zu reduzieren. Dass in einigen Rezensionen des Films die Freundschaft als »Hoffnungsschimmer« bezeichnet wurde, scheint eher eine Beruhigung für das Publikum zu sein, das gerne daran glauben würde, dass Freundschaft Grenzen überwinden könnte. Es geht in dem Film aber gerade darum, dass sie es nicht kann und was das bedeutet. Es geht um die Teilung, die festlegt, dass Abraham am Ende des Tages über die Grenze zurück nach Hause fährt, aber Adra ihn nicht besuchen darf. Darum, was es bedeutet, an einem Ort zu bleiben und was es bedeutet, einen Ort zu verlassen.

Zermürbungstaktik

Dass das Filmen nicht ungefährlich ist, wird im Verlauf der Geschichte immer deutlicher: Zunehmend gerät Adra ins Visier des Militärs. Er wird mehrmals niedergeschlagen, nachts tauchen Soldaten auf, die das Haus seiner Familie nach ihm durchsuchen, sein Vater wird verhaftet. Die Einschüchterungen der Aktivist*innen passieren schleichend, während ein Haus nach dem anderen in Schutt gelegt wird. Der Film fängt die Zermürbung ein, den psychologischen Preis für die, die noch ein Dach über dem Kopf haben. Und er dokumentiert den Preis, den Menschen bezahlen, wenn sie an etwas festhalten, an dem sie nicht festhalten sollen. An einem Stromgenerator zum Beispiel, wie Harun Abu Aram, dem deshalb 2020 in Masafer Yatta von israelischen Soldaten aus geringer Distanz in den Nacken geschossen wurde und der später seinen Verletzungen erlag. Aktuell wird der völkerrechtswidrige Siedlungsbau im Westjordanland durch militante Siedler*innen massiv vorangetrieben und, wie der Film zeigt, durch das Militär gestützt; es gibt immer wieder Tote. Ganze Dorfgemeinschaften in Masafer Yatta verlassen die Region.

Durch die Bilder wird ein weltpolitisch relevantes Thema auf die Ebene der unmittelbar Betroffenen gebracht. Die Filmarbeit des Kollektivs zeigt, wie eine gemeinsame Auseinandersetzung aussehen kann, die derzeit vor allem in Freund-Feind-Denken diskutiert wird. Es geht in »No Other Land« nicht ums Agitieren für ein bestimmtes politisches Programm, sondern um Handlungsfähigkeit, Widerstand und die kleine Hoffnung, dass Bilder aufrütteln können. In Berlin formulierte es Adra so: »Die Kamera ist das einzige, was wir neben unserer Beharrlichkeit haben.«

Miryam Frickel

arbeitetet bei verschiedenen (Dokumentar-)Filmfestivals und Filminitiativen mit.