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|ak 655 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Der diskrete Gram der Bourgeoisie

Von Frédéric Valin

Es gibt seit ein paar Jahren eine wahre Welle von Betroffenenliteratur. Damit meine ich autobiografische Bücher, die sich um ein Stigma anordnen. Man könnte von autofaktischen Werken sprechen. Sie behandeln alle Sorten Diagnosen und Einschränkungen, und die meisten tun es so, als würden sie einen erfolgreichen Therapieverlauf nachzeichnen. Das Stigma ist einerseits das Alleinstellungsmerkmal, das die Person zu etwas besonderem macht; die Erlebnisse sind dann der Stoff, das Buch selbst – Zeugnis der Selbstbehauptung und sinnstiftend, weil es anderen Betroffenen Trost spenden könnte – beweist die Möglichkeit, produktiv mit den Einschränkungen umzugehen.

Die meisten dieser Texte kommen von Autor*innen der Mittelschicht, die sich ihre Erfahrungen von der Seele schreiben. Es treten auch einige Merkmale des bürgerlichen Trauerspiels auf: Gesellschaftspolitische Zusammenhänge kommen nur am Rand vor, der Ton ist häufig familiär, als Leser*in soll man mitgenommen werden in die (häufig überraschend wohnliche) Seele der Autorin, des Autors. Es geht um Identifikation, um Mitleid, aber auch um die Aufwertung der mit der Einschränkung einhergehender Stigmatisierungen. Die Autor*innen schreiben sich zurück in die Gesellschaft.

Neulich erzählte mir eine Freundin, als sie schwanger war, hätte sie die Fruchtwasseruntersuchung zur Abklärung von Gendefekten gemacht, und wäre der Befund positiv gewesen, hätte sie abgetrieben: weil es nicht gegangen wäre. Es war damals schon klar, dass sie sich vom Erzeuger trennen würde, sie war zuvor selbstständig gewesen, sie ist keine Muttersprachlerin, hat hier keine Familie, und auch sonst ist das Leben eher kompliziert. Sie wusste das alles, und weil sie ein paar Menschen mit Behinderungen in ihrer Familie hat, wusste sie auch, dass das keine Mutter-Kind-RomCom mit Happy End geben würde, wenn es Schwierigkeiten gäbe, sondern dass jede dieser Schwierigkeiten – die Organisation des Hilfebedarfs, Arschlocheltern anderer Kinder, die Organisation des möglichen medizinischen Bedarfs, Betreuungsmehraufwand, Fördermehraufwand – die eine Schwierigkeit zu viel sein könnte.

Das halte ich für realistisch. Der Mutter von M. ging es genau so. Sie ist eine einfache Frau, Verkäuferin in einem Supermarkt, ebenso alleinerziehend, und sie ist an der Aufgabe, ihren Sohn großzukriegen, einigermaßen zerbrochen. Er ist jetzt Mitte dreißig, mit 18 ist er ausgezogen, sie kann ihn erst seit vier Jahren wieder allein besuchen kommen. Davor hat sie es kaum ertragen, ihn zu sehen, aus Angst, aus schlechtem Gewissen, aus Wut und vielleicht auch aus Hass. Ich weiß es nicht, ich kann es nur ahnen. Inzwischen hat sich ihr Verhältnis zu M. normalisiert, auch wenn er bei ihr wieder ganz Kind wird, mit süßer Fistelstimme spricht, geknuddelt und liebgehabt werden will, und die Mutter kauft ihm immer tonnenweise Schokolade. Aber es ist eine Interaktion. Ihre negativen Gefühle hat sie auf die Betreuer*innen übertragen. Jedes Mal hören wir uns eine Viertelstunde an, was wir wieder alles verbockt haben. Das ist okay so. M. kann knuddeln, die Mutter schimpfen, wir haben irgendwann Feierabend. Das ist ein stabiles System.

Ich habe das letzte Jahr an die 30 Bücher und Thinkpieces von Eltern gelesen, deren Kinder eine Diagnose haben, von ihren Kämpfen und Verzweiflungen und wie sie alles trotz aller Widrigkeiten hingekriegt haben (Spoiler: ohne familiäres Umfeld geht nix). Alle endeten mit einem Kapitel über ihre große Dankbarkeit, das Kind behalten zu haben und dass es jetzt ihr Leben bereichere.

Ich hab das gelesen, weil mich Elternarbeit bisweilen nervt und ich ein Gefühl dafür kriegen wollte, was das bedeutet, ein Kind mit starken Einschränkungen großzuziehen. Eines hab ich gelernt: Die Einsamkeit muss riesig sein. Keines dieser Bücher hätte M.s Mutter oder meiner Freundin geholfen; es hätte ihr nur ihr eigenes Scheitern stärker vor Augen geführt. Es sind Bücher von Privilegierten, deren Leben in einem Punkt abweicht – einem entscheidenden, ohne Frage. Aber es sind nichtsdestotrotz Bücher von Leuten, die es geschafft haben. Was machen all die Einsamen, die nicht die Ressourcen und Fähigkeiten haben, das eigene Schicksal in ein sinnstiftendes Buch zu verwandeln? Wir werden es nie erfahren. Wahrscheinlich wollen wir das auch nicht.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schrieb er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.