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|ak 660 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Das wird wohl erst nächstes Jahr was

Von Frédéric Valin

Kalle hat große Schwierigkeiten mit Zeitabständen. Was ein, zwei Tage sind, das überblickt er noch, aber alles, was darüber hinausgeht, ist ihm kaum vermittelbar. Ich vergesse das regelmäßig, weil Kalle sehr eloquent ist und sich beispielsweise immer blumigst ausmalt, wie der nächste Ausflug mit der Mutter nach sagen wir Hamburg aussehen wird. Alle drei Minuten fügt er eine neue Aktivität zur Liste der dort zu erledigenden Dinge hinzu, bis man ihn fragt, wann der denn sein wird, der Ausflug, und es stellt sich raus: in drei Monaten oder so. Drei Monate wird er sich also quasi minütlich eine neue Aktivität ausdenken, die dort dann unbedingt vonstatten gehen muss, und ich bin live dabei. Puh, sage ich dazu, einmal laut und dreimal leise, puh, puh, puh.

Zu Beginn der Kontaktbeschränkungen und der Schließung der Werkstätten habe ich häufiger daran gedacht, dass das jetzt sehr anstrengend werden wird für ihn, wenn man ihm ständig wird sagen müssen: Wir wissen noch nicht genau, wann dieser Zustand endet, vielleicht in zwei Wochen und dann nochmal zwei Wochen und dann wieder zwei Wochen, und ja natürlich kannst du deine Mutter anrufen, und irgendwann werdet ihr bestimmt nochmal nach Hamburg fahren können, aber ich weiß nicht wann.

Umso überraschter war ich, dass Kalle die erste Zeit der Krise gar nicht von Hamburg sprach, erst nach drei Wochen, und was er dann sagte, hat mich tief gerührt. Er sagte: Das wird wohl erst nächstes Jahr was.

Ein Jahr ist nämlich doch ein vorstellbarer Zeitraum, da liegen einmal Weihnachten und Geburtstag dazwischen, und auch, wenn er nicht genau weiß, wann Weihnachten und Geburtstag sind, ist es doch ein Zeichen, dass er weiß: Das wird wirklich lang. Dann hat er noch gefragt, ob ich meine Familie gerade sehe, und dann hat er angefangen sich auszumalen, was er dann nächstes Jahr alles in Hamburg machen will.

Ich habe gerade sehr viel Kontakt zu Leuten in allen Branchen der Sozialen Arbeit, und der Tenor ist: Die Klient*innen, Patient*innen, Bewohner*innen kommen in Summe erstaunlich gut klar mit dem Lockdown. Es gibt natürlich die Menschen, denen das sehr schwer fällt, aber es scheint schon so zu sein, dass gerade die Unterprivilegiertesten ein Gespür dafür haben, dass sich etwas verändert hat gesellschaftlich, und sie sich darauf einstellen. Viel besser als der Kollege Ergotherapeut, der immer noch der Meinung ist, in einem Monat in den Türkei-Urlaub fliegen zu können, einfach weil er es sich verdient hat. Viel besser als meine Gruppenleitung, die nach wie vor glaubt, Dienstbesprechungen müssten mit allen Leuten vor Ort durchgeführt werden statt per Telefonkonferenz, weil das halt netter ist, sich auch mal ins Gesicht zu sehen.

Natürlich ist es notwendig, den Bewohner*innen immer wieder zu erklären, was da draußen vor sich geht und warum gerade Isolation und Zurückhaltung notwendig sind, der normale Alltag nicht machbar ist. Eine Kollegin in einer anderen Einrichtung schaut inzwischen mit den Bewohner*innen jeden Abend Tagesschau, einfach um ihnen zu zeigen: Corona, das ist noch Thema da draußen, und deswegen bleiben wir drin.

Wie lang das noch gut geht, keine Ahnung. Es wäre einfacher, wenn nicht Ergotherapeut und Gruppenleitung – wir können sie einfach mal Lindner und Laschet nennen – so tun würden, als sei das alles nur halb so wild. Die Gruppenleitung hat sich neulich gefreut, dass so viel über Menschen mit Behinderung geschrieben würde wie sonst nie; als ich sie fragte, warum sie denkt, dass das so ist, meinte sie, die Menschen da draußen würden jetzt einfach sensibler.

Ja sicher, Annika Lindner, es liegt wahrscheinlich nicht daran, dass – Beispiel Niedersachsen – 40 Prozent der an Covid-19 gestorbenen Menschen in Heimen wohnten. Aber sowas liest sie nicht, ebensowenig wie die RKI-Treatments. Kalle überblickt das besser als sie, aber das ist nur ein kleiner Trost, denn er stirbt mit größerer Wahrscheinlichkeit an ihrer Ignoranz als sie an seiner. Und wenn man ihr sowas sagt, wird man zum Personalgespräch gebeten, zum zweiten Mal schon, vielleicht nehme ich Kalle diesmal einfach mit.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schrieb er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.