analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 697 | Alltag |Reihe: euer Ehren

Das letzte Refugium der Menschenwürde

Von Moritz Assall

2019 erschien im SPIEGEL ein Interview mit Alassa Mfouapon, in dem er seine Geschichte erzählt: Wie er 2014 nach Abschluss seines Studiums Kamerun verließ, welchen Misshandlungen er und seine Frau auf der Flucht ausgesetzt waren, wie die beiden mit ihrem zweijährigen Sohn über das Mittelmeer flohen, wie das Boot kenterte und das Kind vor ihren Augen ertrank. Bekannt geworden war Alassa Mfouapon nach einem Vorfall in der Landeserstaufnahme (LEA) Ellwangen, in der er auf seine Abschiebung aus Deutschland nach Italien wartete. In einer Nacht sollte ein Mensch abgeschoben werden, eine Gruppe Geflüchteter solidarisierte sich und verhinderte die Abschiebung. Alassa Mfouapon hatte sich im Anschluss öffentlich gegen die mediale Hetze nach diesem Vorfall gewandt, den Leser*innen der Bildzeitung wurde er deshalb auch bekannt als der »Skandal-Asylbewerber«. Alice Weidel bezichtigte ihn wahrheitswidrig der »Rädelsführerei«, was ihr später gerichtlich untersagt wurde. Der AfD-Politiker Thomas Seitz schrieb: »Für solche Fälle braucht es eine wirksame Abschreckung. Dafür darf eine Änderung von Art. 102 GG kein Tabu sein«. Artikel 102 des Grundgesetzes ist nicht sehr lang, nur ein kurzer Satz. Er lautet: Die Todesstrafe ist abgeschafft.

Im Mai 2018 wurden in der LEA Ellwangen als Reaktion auf die verhinderte Abschiebung die Zimmer aller Bewohner*innen durchsucht. Einige Wochen darauf wurde Alassa Mfouapon von der Polizei in der Nacht in seinem Zimmer aufgesucht und abgeschoben. Beides geschah ohne Gerichtsbeschluss. Mfouapon klagte, unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte, denn im Grundgesetz steht, dass Durchsuchungen von Wohnraum grundsätzlich nur mit richterlichem Beschluss zulässig sind, sonst sind sie rechtswidrig. Eigentlich eine einfache Angelegenheit könnte man meinen.

Aber nein. Zunächst entschied das Verwaltungsgericht Stuttgart, dass es sich bei Schlafzimmern von Geflüchtetenunterkünften gar nicht um Wohnraum handele, denn »die konkrete Ausgestaltung der Unterbringung in der LEA in Ellwangen lässt es nicht zu, von einer ausreichend vorhandenen räumlichen Privatsphäre zu sprechen«, die aber Wohnraum im Sinne des Grundgesetzes kennzeichne. In anderen Worten: Die Privatsphäre eines Wohnraums der Geflüchteten muss nicht grundrechtlich geschützt werden, weil es in der Unterkunft gar keine Privatsphäre gibt. Diese völlig menschenfeindliche Rechtsprechung wurde dann vom Verwaltungsgerichtshof Stuttgart erfreulicherweise gekippt und dies Mitte dieses Jahres vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Die Gerichte urteilten, es handele sich bei den Zimmern der Geflüchteten eben doch um Wohnraum und stellten fest, jeder Mensch benötige »ein räumliches Substrat, in dem er für sich sein und sich nach selbstgesetzten Maßstäben frei entfalten, also die Wohnung bei Bedarf als ›letztes Refugium‹ zur Wahrung seiner Menschenwürde nutzen kann«, und das stehe auch Geflüchteten in Unterkünften zu. Alassa Mfouapon müsse daher in seinem Zimmer in der Unterkunft »ein abgrenzbarer elementarer Lebensraum und ein Mindestmaß an persönlicher Sphäre« gewährt werden.

Bestand also voller Grundrechtsschutz und die Maßnahmen der Polizei waren rechtswidrig? Nein, denn laut den Gerichten wurde dieser Wohnraum gar nicht »durchsucht«, weil es »zu keiner Durchsuchungshandlung im Sinne eines ziel- und zweckgerichteten Suchens nach etwas Verborgenem kam«. Das musste es auch nicht, denn das Zimmer war so klein, dass an ein Verbergen gar nicht zu denken war. Im Urteil steht: »Eine Durchsuchung kann, gemessen daran, begrifflich nicht vorliegen, wenn es aufgrund der räumlichen Gegebenheiten des Einzelfalls – etwa weil der Raum sehr klein und überschaubar ist – von vornherein ausgeschlossen ist, dass es sich (…) um etwas ›nicht klar zutage Liegendes, vielleicht Verborgenes‹ handeln kann.« In anderen Worten: Wenn Menschen in dermaßen beengten Verhältnissen leben, dass sie ohne weitere Suchmaßnahmen mit einem Blick in den Wohnraum sofort ausfindig gemacht werden, kann die Polizei sie ohne richterlichen Beschluss aufsuchen und abschieben. Wie praktisch, dass Geflüchtete in Deutschland regelmäßig in genau solchen Verhältnissen leben. Und das zwangsweise.

Moritz Assall

ist Jurist und Kriminalsoziologe. Er arbeitet für die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.